Computerszene 1955
Geschrieben am 23.10.2020 von HNF
Vom 25. bis zum 29. Oktober 1955 fand in der Technischen Hochschule Darmstadt eine große Tagung über das Thema elektronische Rechenmaschinen statt. Der Tagungsleiter war Alwin Walther, der Chef des Instituts für Praktische Mathematik. Der Kongress führte 530 Forscher aus westlichen Ländern wie auch aus dem Ostblock zusammen, die 64 längere und kürzere Referate hörten.
Vor 65 Jahren gab es noch keine E-Mails. Wenn ein Wissenschaftler neue Resultate mitteilen wollte, dann schickte er sie per Post, besuchte die Kollegen, schrieb einen Fachaufsatz oder wartete auf die nächste Konferenz. Im Blog schrieben wir über die erste deutsche Informatiktagung, die 1952 in Aachen ablief und an der Heinz Nixdorf teilnahm. 1953 wurde in Göttingen ein Kolloquium zu Rechenanlagen organisiert, 1954 folgte in der Technischen Hochschule München ein „Rundtischgespräch“ über den neuen Computer PERM.
Ein Jahr später erlebte die TH Darmstadt ein Event, das in der kargen Wiederaufbauzeit fast eine Superkonferenz darstellte. Vom 25. bis 29. Oktober 1955 fand die Tagung „Elektronische Rechenmaschinen und Informationsverarbeitung“ statt. Beteiligt waren gleich mehrere wissenschaftlich-technische Gesellschaften, zusätzliche Förderung kam von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Stadt Darmstadt. Tagungsort war die Otto-Berndt-Halle neben der Hochschule, ein etwas schmuckloses Mehrzweckgebäude. Es beherbergt heute die Mensa.
Die Tagung leitete der TH-Professor Alwin Walther. 1898 in der Nähe von Dresden geboren, lehrte er seit 1928 in Darmstadt. Das von ihm gegründete Institut für Praktische Mathematik befasste sich vor allem mit dem Bau und dem Einsatz analoger Rechengeräte. Im Zweiten Weltkrieg organisierte Walther zwei Teams aus Rechnerinnen, die bei der Entwicklung der V2-Rakete mithalfen. Er interessierte sich aber auch für digitale Hardware; sein Assistent Wilfried de Beauclair unterstützte Konrad Zuse beim Bau des Relaiscomputers Z4.
Von den 530 Teilnehmern der Darmstädter Tagung reisten mehr als hundert aus dem Ausland an. Die Referenten kamen aus elf Ländern. Wir finden unter ihnen Koryphäen der Computerentwicklung wie Howard Aiken von der Harvard-Universität, Heinz Billing aus Göttingen, Herman Goldstine vom Institute for Advanced Study in Princeton und Maurice Wilkes von der Universität Cambridge. Aiken schuf den ersten US-Computer, Billing den ersten deutschen Elektronenrechner, Goldstine wirkte am Bau des ENIAC mit und Wilkes konstruierte den englischen EDSAC.
Vertreten war auch das Team, das die Münchner PERM entwickelte. Forscher aus Belgien, Holland, Österreich und Schweden stellten Projekte ihrer Ländern vor, und wir entdecken Heinz Zemanek und den künftigen Turing-Preisträger Edsger Dijkstra. In der Rednerliste fehlen Namen aus Frankreich, aber vielleicht waren Franzosen unter den Zuhörern. Heinz Rutishauser von der ETH Zürich berichtete über die dort installierte Zuse Z4, und Wolfgang Uhl von der Optik-Firma Leitz sprach über die in Wetzlar operierende Zuse Z5.
Konrad Zuse hielt keinen Vortrag – der Grund dafür ist unbekannt. Er fuhr vermutlich nach Darmstadt, denn die Studentenzeitung der Hochschule schrieb, dass er an der Tagung mitgewirkt hätte. Zum ersten Mal im Westen referierten der Dresdner Computerpionier Joachim Lehmann und sein Kollege Karl-Heinz Bachmann. Aus Prag erschien Antonin Svoboda, und am Schlusstag der Konferenz traten die Wissenschaftler aus der Sowjetunion auf, allen voran Sergej Lebedew. Sein BESM war 1952 der schnellste Elektronenrechner außerhalb der USA gewesen.
Wie ging es weiter? Im November 1955 fand in Dresden ein internationales Mathematiker-Kolloquium über Probleme der Rechentechnik statt. 1958 konnten russische Forscher eine Konferenz zur Künstlichen Intelligenz in London besuchen, 1959 führte die UNESCO 1.500 Experten aus aller Welt in Paris zusammen. Die Darmstädter Tagung vom Oktober 1955 war aber die erste, die nach dem Krieg einen west-östlichen Informationsaustausch über die Computertechnik ermöglichte.
Außerdem war sie die Geburtsstätte der Sprache ALGOL, wie hier geschildert. Alwin Walther leitete das Institut für Praktische Mathematik noch bis 1966. Er starb im Januar 1967; sein Institut wurde danach aufgelöst. Erhalten ist ein Film von 1963, in dem wir Walther und den von ihm gebauten Darmstädter Elektronischen Rechenautomaten DERA sehen, dazu zwei Programmiererinnen. Er stammt wahrscheinlich vom Bayerischen Rundfunk. Alwin Walthers Gesprächspartner war der damals recht bekannte Fernsehastronom Rudolf Kühn.
Unser Eingangsbild zeigt das alte Hauptgebäude der Technischen Hochschule Darmstadt (Foto Thomas Ott/TU Darmstadt). Die insgesamt 64 Referate der Tagung „Elektronische Rechenmaschinen und Informationsverarbeitung“ erschienen unter diesem Titel 1956 als Beiheft der „Nachrichtentechnischen Zeitschrift“. Es ist leider nicht online, kann aber in wissenschaftlichen Bibliotheken ausgeliehen werden.
Der Film über Prof. A. Walther und seine DERA ist ein tolles Zeitdokument, nicht nur über die Maschine sondern auch über den damaligen Umgang miteinander und die Einschätzung der zukünftigen Entwicklung. Super!