Der Sommer der Bildplatte
Geschrieben am 19.06.2020 von HNF
Vorgestellt wurde sie vor fünfzig Jahren, am 24. Juni 1970, in Berlin. Die Bildplatte war eine Entwicklung der Firmen Telefunken und Teldec; sie speicherte zehn Minuten lange Videos. Ein ingeniöses mechanisches System tastete die schmale Rille mit den Bilddaten ab. Abspielgeräte für Bildplatten kamen aber erst 1975 auf den Markt. 1977 verschwand die Technik wieder.
Die Bildplatte ist das älteste Speichermedium für das Fernsehen. Die erste erfand 1927 der schottische TV-Pionier John Logie Baird. Er hielt die Signale für 30-Zeilen-Sendungen auf einer normalen Schellackplatte fest. Abspielen konnte er sie leider nicht; das gelang erst Jahrzehnte später seinem Landsmann Don McLean. Zu sehen sind die Baird-Aufnahmen in einer Sendung der BBC von 1996.
Die zweite Bildplatte der Fernsehgeschichte erschien vor fünfzig Jahren in Berlin. Am 24. Juni 1970 hielt der AEG-Telefunken-Konzern eine Pressekonferenz in seinem Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz ab. Die Wochenschau war zugegen – bitte zu Minute 5:00 gehen – und filmte die „Fernsehplatte“. Sie bestand aus weichem Plastik, wog ein Gramm und drehte sich 1.500 mal in der Minute. Auf der Oberfläche lagen pro Millimeter 150 Rillen. Laut Wochenschau würde die Platte die Televisionsgebräuche in deutschen Wohnzimmern revolutionieren.
Entwickelt hatten die Bildplatte die Berliner Elektrofirma Telefunken – wir lassen die Mutter AEG einmal weg – und der norddeutsche Plattenhersteller Teldec; er war eine Tochter von Telefunken und dem englischen Plattenlabel Decca. Am Anfang standen die Ingenieure Hans-Joachim Klemp und Horst Redlich aus dem ebenfalls in Berlin sitzenden Teldec-Labor. Die beiden suchten ab 1965 nach Wegen, um die Kapazität von Schallplatten zu erhöhen. Sie dachten an eine Neuauflage der schon länger bekannten Tiefenschrift, die den Schall als Höhenunterschiede im Boden der Rille speichert.
1967 stießen die Magnetband-Spezialisten Gerhard Dickopp und Eduard Schüller von Telefunken zum Team; Schüller zählte zu den Vätern des Tonbandgeräts. Die gemeinsame Arbeit führte zu einer Technik, die die Tiefenschrift und einen piezoelektrischen Kristall kombinierte. Dabei bewegt sich ein winziger Diamant über die rotierende Kunststoffplatte. Er nimmt die Höhen und Tiefen der Rille als Druckunterschiede auf und gibt sie an den benachbarten Kristall weiter; dieser setzt sie in elektrische Spannungen um. So wird die in der Rille codierte Information gelesen.
Im Februar 1968 meldete das Forscherquartett das erste Patent an. Die Idee, das Verfahren für bewegte Bilder zu nutzen, lag dann nahe. Im Mai 1969 gelang die Ausgabe eines auf einer Platte gespeicherten Schwarzweiß-Fotos auf einem Fernsehschirm. Anfang 1970 lief darauf der erste Film; er zeigte die Sekretärin von Horst Redlich. Im Frühjahr wurde der Prototyp des Bildplattenspielers den Chefs von Telefunken, Teldec und Decca vorgeführt. Es folgten der Pressetermin in Berlin und am Jahresende auch eine Präsentation in New York.
Die Reaktion der Journalisten war überaus positiv. Die ZEIT schrieb: „Der Massenmarkt, auf den es die Unterhaltungselektronik abgesehen hat, gehört nach dem heutigen Stand der Bildplatte; die audiovisuelle Zeitungsbeilage ist absehbar geworden.“ Das amerikanische Magazin Popular Science sprach von einer „Amazing Video Disc“ und vom „grooviest record ever”. Jetzt musste allerdings die supertolle Scheibe in die Serienproduktion überführt und auf den Markt gebracht werden.
Aus den zunächst geplanten zwei Jahren bis zur Serienreife wurden fünf. Erst am 17. März 1975 konnten Videofans den Bildplattenspieler Telefunken TP 1005 im Laden erwerben. Er kostete 1.500 DM, die Platten gab es ab zehn DM. Sie wurden mit der Hülle in das Gerät gesteckt; eine Mechanik zog die Kunststoffscheibe heraus, führte sie um eine Achse und setzte sie auf dem Plattenteller. Die Scheibe rotierte auf einem Luftpolster, während eine andere Mechanik den Diamant über die Oberfläche schob. Das Video zeigt es ganz gut.
Weniger gut verlief die Markteinführung. Die Bildplatte war ein Flop. Daran änderte auch die Funkausstellung im Sommer nichts. Selbst die technikbegeisterte Wochenschau gab sich skeptisch: „Die Bildplatte, im Frühjahr mit großem Werbeaufwand auf den Markt gebracht, ringt noch um Anerkennung. Geringe Spieldauer, hoher Preis, ein wenig durchdachtes Programmangebot bremsen die Kauflust der Konsumenten.“ (Minute 4:35) 1977 verschwand die Platte aus dem Handel. Insgesamt wurden 15.000 Abspielgeräte gefertigt.
Im Rückblick ist der Misserfolg klar. 1975 befand sich der Videorekorder unaufhaltsam auf dem Vormarsch; seine Kassetten boten viel mehr Unterhaltung als eine nur zehn Minuten rotierende Bildplatte. Diese hatte außerdem das Pech, an einem Tiefpunkt der Konjunktur auf den Markt zu kommen: im Frühjahr 1975 gab es in der Bundesrepublik eine Million Arbeitslose. Im gleichen Jahr wurde der Geburtsort der Platte, das Telefunken-Hochhaus, an den Berliner Senat verkauft. Den gesamten Konzern übernahm 1985 die Daimler-Benz AG.
Unsere Bildplatte ist aber nicht vergesseen. Das Fernsehmuseum hält die Erinnerung wach, und dieser Artikel listet bei den Kommentaren am Schluss alle bekannten Bildplatten auf. Original-Videos vom TP 1005 kann man hier und hier genießen. Wer noch Platten braucht, findet sie auf Ebay. Der Nachlass von AEG-Telefunken liegt im Archiv und im Depot des Deutschen Technikmuseums in Berlin. Ihm verdanken wir auch das schöne Eingangsbild mit einem Versuchsmodell des TP 1005 (Foto Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin).
Für Experten sei noch angefügt, dass der Philips-Konzern 1972 die Video-Langspielplatte vorstellte; sie speicherte analoge Fernsehsignale und wurde mit Laserstrahlen abgetastet. Auf den Markt kam sie aber erst 1982 unter dem Namen LaserVision. Die Technik hielt sich bis zur Jahrtausendwende; der digitale Nachfolger war und ist die DVD.
Es ist verrückt zu sehen, wie groß diese Geräte von damals im Vergleich zu dem waren, was wir heute wissen. Ich bin froh, dass ich das erleben durfte.
Mein Großvater hat immer noch sein altes AEG-Radio mit der langen Antenne, und er weigert sich, es loszuwerden. Ein paar der Knöpfe sind abgefallen, aber es funktioniert noch.