Die Geburt der „Informatik“
Geschrieben am 02.07.2018 von HNF
Das Wort „Informatik“ erschien zuerst in einem Firmennamen: die Standard Elektrik AG gründete 1956 in Stuttgart ein Informatikwerk. 1962 nannte der französische Manager Philippe Dreyfus die Computertechnik „informatique“. Am 22. Juli 1968 sprach in Berlin Bundesforschungsminister Gerhard Stoltenberg von einem künftigen Studium der Informatik. Aber war er der Erste, der den Ausdruck der Öffentlichkeit mitteilte?
Die Informatik ist die Wissenschaft und Technik der Informationsverarbeitung, speziell der mit elektronischen Digitalrechnern. Sie entwickelte sich nach dem Krieg in den USA, in West- und Osteuropa sowie Israel, Japan und Australien. In englischsprachigen Ländern kennt man sie als Computer Science. In Deutschland konkurrierten unterschiedliche Bezeichnungen. 1956 erhielt die Technische Hochschule Dresden ein Institut für maschinelle Rechentechnik, 1958 entstand ein Institut für Nachrichtenverarbeitung und -übertragung in Karlsruhe.
1956 gab es bei uns auch die Informatik, zumindest als Wort: Sie steckte im Informatikwerk Stuttgart der Standard Elektrik AG. Dort entwickelte der Physiker Karl Steinbuch das Informatik-System Quelle, den ersten deutschen Transistorcomputer. Sie überquerte die Grenze nach Frankreich, wurde zur informatique und bezeichnete die Informationstechnik. Der Manager Philippe Dreyfus nannte 1962 eine neue Firma für angewandte Informatik „Société d’informatique Appliquée“. In der DDR trug die Informatik außerdem eine bibliothekswissenschaftliche Bedeutung.
In der Schöpfungsgeschichte der Informatik wird immer wieder ein Politiker erwähnt, der den Ausdruck in die Umgangssprache eingeführt haben soll. So schrieb der Computerpionier Friedrich Bauer 2009 in seinem Buch „Historische Notizen zur Informatik“: „Bundesminister Stoltenberg gebrauchte 1968 das neue Wort erstmals bei einer Fachtagung in Berlin, und die Presse griff es fast begierig auf: so war es bald in aller Munde, und niemand litt unter Verständnisschwierigkeiten.“
Jener Politiker ist der 1928 in Kiel geborene Gerhard Stoltenberg. Der Christdemokrat lernte den Beruf des Historikers. Von 1955 bis 1961 leitete er die Junge Union, zwischen 1965 und 1969 das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung. Von 1971 bis 1982 amtierte er als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Anschließend war Stoltenberg in Bonn Finanzminister und ab 1989 Bundesminister der Verteidigung. 1992 trat er wegen dubioser Lieferungen von Panzern in die Türkei zurück. Er starb 2001 in Bonn.
In den 1960er-Jahren startete Gerhard Stoltenberg das erste DV-Programm des Bundes mit 321 Millionen DM; weitere 40 Millionen gab das Wirtschaftsministerium. Das Geld floss meist in die Industrie. Kundige Beratung leistete ein Fachbeirat für Datenverarbeitung aus Wissenschaftler und Firmenvertretern. Im Januar 1968 trat ein Ausschuss für DV-Lehrstühle und DV–Ausbildung zusammen. Er empfahl die Einrichtungen von Studiengängen eines neuen Fachs Informatik ähnlich der amerikanischen Computer Science.
Hier finden wir also schon unser Wort, allerdings drang es noch nicht nach außen. Die Empfehlungen des Ausschusses wurden im Mai 1968 ausgearbeitet und vom Fachbeirat für Datenverarbeitung unterschrieben. Am 20. Juni 1968 schickte Minister Stoltenberg das Papier seiner Experten an die Chefs der Kultusministerkonferenz, des Wissenschaftsrats und der Westdeutschen Rektorenkonferenz. Einen Monat später hatte er die Gelegenheit, ihre Vorschläge höchstpersönlich zu verbreiten.
Am 22. Juli 1968 begann in der Technischen Universität Berlin eine große Konferenz. Sie versammelte die Elite der westdeutschen Informationstechnik und Spitzenforscher des MIT Boston. Bis zum 2. August fanden 1.100 Interessenten den Weg ins Auditorium Maximum. Finanziert wurde Der Computer in der Universität von der Ford-Stiftung, der DFG, dem Berliner Senat und dem Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung. Den ersten Vortrag hielt dann auch Bundesminister Stoltenberg.
Er schilderte seine DV-Förderung; danach sprach er über die Ratschläge des Fachbeirats. So sagte er: „Für die Ausbildung von Fachleuten zur Entwicklung des logischen Entwurfs von Datenverarbeitungs-Systemen, von System und Benutzerprogrammen und die Erschließung neuer Anwendungsgebiete wird ein neuer Studiengang ‚Informatik‘ benötigt, der sich weitgehend an der Ausbildung in ‚Computer Science‘ orientiert, wie sie sich in den letzten Jahren an den Hochschulen der USA entwickelt hat.“
Die Informatik kommt noch ein zweites Mal in der Rede vor, doch wie im ersten Fall ausdrücklich mit Bezug auf die zitierten Empfehlungen. Dagegen erscheint die altbekannte Datenverarbeitung allein oder als Wortteil 42-mal. Wir bitten dabei um Verständnis, dass wir den Vortragstext von 1968 nicht komplett reproduzieren; er umfasst elf PDF-Seiten. Sicher ist, dass Gerhard Stoltenberg das Wort „Informatik“ – im heutige Sinne verstanden – in den Mund nahm, aber keinesfalls in der Absicht, es in die Alltagsprache einzuführen.
Hat er aber nicht den Ausdruck öffentlich gemacht? Das hat er auch nicht. Die Ehre gebührt Gerhard Stoltenbergs Pressedienst. Ein unbekannter Mitarbeiter verschickte am 3. Juli 1968 die „Empfehlungen zur Ausbildung auf dem Gebiet der Datenverarbeitung“. Das I-Wort kann man heute auf Google Books nachlesen: „Die rasche technische Entwicklung auf dem Gebiet der Informationsverarbeitung macht an mehreren Universitäten und Technischen Hochschulen die Einrichtung eines Studiengangs Informatik erforderlich.“
Vor fünfzig Jahren trat also unsere Wissenschaft in die Welt – nicht an der Spree, sondern am Rhein. Wir bedanken uns bei der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt Augustin für den Scan der Stoltenberg-Rede. Unser Eingangsbild zeigt die TU Berlin in den späten 1960er-Jahren (© TU Berlin/Universitätsarchiv). Der Parkplatz wurde inzwischen stillgelegt.
Zur Problematik der Einführung des Begriffs „Informatik“ : Beim Münchner Vorstoß vom Herbst 1967 von F.L. Bauer u.a. zu einem Studiengang Informatik musste die Disziplin aus formaljuristischen Gründen zunächst noch Informationsverarbeitung genannt und als Studienzweig innerhalb der Mathematik verkleidet werden. Das Wort ,,Informatik“ sollte mit Rücksicht auf dieWarenzeichenrechte der Firma Standard Elektrik nicht benutzt werden. (nach Festschrift „40 Jahre Informatik in München: 1967 – 2007“)
Mit verlorenen Prozessen vor deutschen Gerichten begann die Informatik in Deutschland. Friedrich L. Bauer, der die Informatik genau mit diesem Namen als Wissenschaftsdisziplin etablieren wollte, unterlag vor Gericht gegen Standard Elektrik Lorenz (SEL), das die Namensrechte an Informatik hielt, weil es 1956 das Informatik-System Quelle an den Start gebracht hat. Dies wurmte den ebenso ehrgeizigen wie erfolgreichen Bauer nachhaltig, behinderte die Entwicklung der umgetauften „Informationsverarbeitung“ aber kaum. (aus Wikipedia)
In den USA gab es exakt dasselbe Problem mit den Markenrechte. Dort war auch ein Bauer, allerdings nicht Friedrich, sondern Walter F. Bauer und seine Firma „Informatics“. Ihnen gelang, dort „Informatik“ nicht zur Bezeichnung einer Wissenschaft werden zu lassen: „In the United States, however, Informatics fought any such use as an infringement upon their legal rights to the name; this was partly in fear of the term becoming a brandnomer. Bauer later recalled that at one point the Association for Computing Machinery, the leading academic organization in computer software, wanted to change its name to the Society for Informatics, but the company refused to allow that use. Eventually the generic usage of the term around the world caused the company to reconsider and, according to Frank, was the reason for the 1982 name change to Informatics General.“ https://en.wikipedia.org/wiki/Informatics_General#The_name
PS: Zeigt das Titelbild das Hauptgebäude der TU-Berlin? Von wann ist das Bild?
Ja, das ist das TU-Hauptgebäude in den späten 1960er-Jahren.