Ein Baby wird siebzig
Geschrieben am 21.06.2018 von HNF
Ein elektronischer Computer umfasst fünf Elementen: Eingabe, Ausgabe, Steuerung, Rechenwerk und Speicher. Der Speicher enthält Zahlen wie auch Befehle; letztere können durch andere Befehle geändert werden. Das erste Gerät, das alle diese Bedingungen erfüllte, rechnete am 21. Juni 1948 sein erstes Programm. Es war die „Kleinformatige Versuchsmaschine“ der Universität Manchester, auch bekannt als Manchester Baby.
„Eine kleine elektronische digitale Rechenmaschine läuft seit einigen Wochen mit Erfolg im Rechnerlabor der Royal Society, das sich gegenwärtig in der Abteilung Elektrotechnik der Universität Manchester befindet. Die Maschine ist ein reines Versuchsgerät und zu klein für ernsthafte mathematische Arbeiten. Sie wurde hauptsächlich gebaut, um das eingesetzte Speicherverfahren zu testen und praktische Erfahrungen zu gewinnen, die dem Entwurf einer größeren Maschine zu Gute kommen.“
So begann am 25. September 1948 in der Wissenschaftszeitschrift Nature eine Mitteilung über “Electronic Digital Computers“. Sie füllte eine halbe Seite und beschrieb den ersten englischen Elektronenrechner. Er war zugleich der erste mit den kanonischen Merkmalen, die der Mathematiker und Computerpionier John von Neumann definiert hatte. Das waren Vorrichtungen zur Ein- und Ausgabe, ein Leit- und ein Rechenwerk sowie ein Speicher für Zahlen und Programme. Kurz, er war ein sogenannter Von-Neumann-Rechner.
Die Autoren Frederic „Freddie“ Williams und Tom Kilburn arbeiteten beide in der Universität Manchester. Sie besaß ein „Computing Machine Laboratory“ der Royal Society. Es existierte nur auf dem Papier, doch die Gesellschaft hatte der Uni Geld gestiftet, weshalb ihr Labor im Text erschien. Der 1911 geborene Williams war im Krieg in einem Zentrum für Radarforschung tätig, der zehn Jahre jüngere Kilburn gehörte zu seinen Helfern. Ab 1946 leitete Williams in Manchester das Institut für Elektrotechnik. Sein Assistent war wiederum Kilburn, der an die Hochschule delegiert wurde.
Die im Text genannte Maschine war eine Gruppe von sieben mannshohen Regalen, in denen 550 Elektronenröhren steckten. Dazu kamen vier Kathodenstrahlröhren, wie man sie aus alten Fernsehempfängern kennt. Durch trickreiche Umbauten hatten Williams und Kilburn sie in Register und Speicher für Dualzahlen verwandelt. Die zentrale Röhre nahm 32 Zahlen zu je 32 Stellen auf, insgesamt also 32 x 32 = 1.024 Bit. Eine andere zeigte ihren Inhalt durch kleinere oder größere Lichtpunkte an und fungierte somit als Ausgabeeinheit.
Auf das Prinzip der Speicherröhre war Freddie Williams 1946 gekommen. Im folgenden Jahr entwickelte Tom Kilburn ein funktionsfähiges Modell; es fasste bereits 2.048 Bit. Für weitere Tests bauten die beiden zusammen mit einigen Kollegen einen Computer um die Röhre herum, wie im Nature-Artikel beschrieben. Er war im Juni 1948 fertig. Zu Beginn war er wohl namenlos, später bürgerten sich die Bezeichnungen Small-Scale Experimental Machine, kurz SSEM, und Manchester Baby ein.
Die „kleinformatige Versuchsmaschine“ berechnete das erste Programm am 21. Juni 1948. Es enthielt 17 Befehle und suchte für eine Zahl den größten Teiler. Nach Eingabe von 262.144 – der 18. Potenz von 2 – benötigt das Baby 52 Minuten, bis das Resultat vorlag: 131.072, also die Hälfte. Ein weiteres Programm fand für zwei Zahlen den größten gemeinsamen Teiler. Ein drittes führte die schriftliche Division aus. Es stammte vom Computerpionier Alan Turing, der im Sommer 1948 eine Lehrtätigkeit in Manchester aufnahm.
Freddie Williams und Tim Kilburn verschickten ihre Mitteilung am 3. August 1948. Ansonsten blieb der Computer weitgehend unbekannt. Ab August wurde er verbessert und vergrößert, unter anderem durch einen Trommelspeicher und einen Fernschreiber. Im Oktober 1949 hatte sich das Baby in den Elektronenrechner Manchester Mark 1 verwandelt. Aus jener Zeit sind Fotos überliefert, darunter unser Eingangsbild (Foto The University of Manchester), eine Panoramaaufnahme und ein kurzer Videoclip.
Im Netz finden sich ausführliche Seiten zum Manchester Baby aus den Jahren 2008 und 1998. In jenem Jahr enthüllte das Technikmuseum der Stadt auch einen originalgetreuen Nachbau des Computers – siehe unten. Tom Kilburn erlebte ihn noch mit; er starb 2001. Freddie Williams verstarb 1977. Heute Abend feiert das Museum den 70. Geburtstag der „kleinformatigen Versuchsmaschine“, das weltgrößte Computermuseum schickt dazu die herzlichsten Glückwünsche!