Ein Computer macht Theater

Geschrieben am 15.12.2015 von

Im September 1955 wurde in Boston die Boulevardkomödie „The Desk Set“ von William Marchant aufgeführt, die einen Computer auf die Bühne brachte. Danach lief sie erfolgreich am Broadway, und 1958 zeigte ein Theater in Frankfurt/M. die deutsche Übersetzung „Eine Frau, die alles weiß“. Bereits 1957 wurde das Stück mit Spencer Tracy und Katherine Hepburn verfilmt.

Intelligente Maschinen erregten schon früh das Interesse des Theaters. Ende des 18. Jahrhunderts brachte der Mannheimer Schauspieler und Komödienautor Heinrich Beck „Die Schachmaschine“ auf die Bühne, im 19. sehen wir die Puppe Olympia, einen frühen mobilen Roboter, als Dramen-, Opern- und Ballettfigur. 1923 schrieb der amerikanische Dramatiker Elmer Rice das avantgardistische Stück „The Adding Machine“, das 2007 sogar zu einem Musical wurde.

Es verwundert also nicht, dass sich nur neun Jahre nach Vorstellung des ersten programmierbaren Elektronenrechners ENIAC der Vorhang für EMMARAC hob, den „Electro-Magnetic Memory And Research Arithmetical Calculator“. Er spielte die nichtmenschliche Hauptrolle in der Komödie „The Desk Set“ von William Marchant, die im September 1955 in Boston Premiere hatte. Vom Oktober 1955 bis zum Juli 1956 erlebte sie fast 300 Aufführungen in New York, danach folgten viele in anderen Städten.

„Desk Set“ ist die Schreibtischgarnitur. Die weiblichen Protagonisten sind vier schnell denkende und nahezu allwissende Frauen, die die Auskunftsabteilung eines TV-Netzwerks in Manhattan bilden. Leiterin Bunny Watson ist mit Network-Manager Abe Cutler liiert, der aber, was sie stets übersieht, in erster Linie an die Karriere denkt. Die Handlung beginnt Anfang Dezember mit dem Besuch von Richard Sumner, der mit der Installation des EMMARAC in Bunnys Abteilung beauftragt ist.

Der erste Höhepunkt des Stückes ist die Weihnachtsfeier, die im Unterschied zu deutschen Firmen nicht Anfang Dezember oder früher, sondern erst am Heiligabend stattfindet. Dabei kriselt es arg zwischen Bunny Watson und ihrem Freund. Im 3. Akt kommt das temporeiche Finale: EMMARAC geht in Dienst und stürzt schnell ab, und ein zweiter Computer in der Personalabteilung des Netzwerks entlässt die gesamte Belegschaft. Am Schluss dürfen aber alle bleiben, selbst EMMARAC, und Bunny und Abe kriegen sich endlich.

Im Internet finden wir unter anderem das Programmheft des New Yorker Theaters, das „The Desk Set“ in der Saison 1955/1956 zeigte. Die Hardware des Computers wurde von kleineren Ensembles etwas reduziert, siehe das Foto von einer Provinzbühne aus dem Bundesstaat Pennsylvania. Dieses Foto zeigt eine Aufführung im Städtchen Malden Bridge im Staat New York, wo die 15-jährige Barbra Streisand auftrat – ganz rechts bei dem Herrn im Schal.

Irgendwann nach der amerikanischen Premiere erstellte der Münchner Theaterverlag Desch eine deutsche Fassung der Komödie, die den Titel „Eine Frau, die alles weiß – Emerak und die Liebe“ trug. Aus dem Jahr 1958 ist eine Aufführung aus Frankfurt am Main überliefert, vom Kleinen Theater im Zoo und unter der Regie von Wolfgang Spier. Damals stand in der Mainmetropole schon ein realer EMMARAC bzw. Emerak, der große UNIVAC-Rechner, den sich das Battelle-Institut 1956 anschaffte.

Hollywood, immer auf der Suche nach guten Geschichten, entdeckte auch „The Desk Set“. 20th Century Fox produzierte einen Film in Farbe und Cinemascope, der am 15. Mai 1957 in den US-Kinos anlief. Die westdeutsche Premiere von „Eine Frau die alles kennt“ (sic!) fand am 2. August des Jahres statt. Die weibliche Hauptrolle übernahm Katherine Hepburn, Spencer Tracy spielte Computerexperten Richard Sumner und Gig Young den TV-Manager, der im Film Mike statt Abe Cutler heißt.

Bei den Kulissen folgte das Studio der Bühne, allerdings fügte man zwei IBM-Bandlaufwerke und einen Bedientisch hinzu, vermutlich einen aufgepeppten Tabulator des Typs IBM 407. Außerdem erfanden die Drehbuchautoren einen weiteren Schauplatz, die Wohnung von Bunny Watson. Die gravierendste Änderung betraf den Schluss des Films: Hier bekommt Bunny nicht Mike Cutler, sondern Richard Sumner. Alles andere hätte die Fans von Katherine Hepburn und Spencer Tracy erzürnt, die sich im realen Leben ziemlich nahe standen.

Das Design von EMMARAC bestimmte jahrelang das allgemeine Bild, das sich die Öffentlichkeit und die Medien vom Computer machte; große leuchtende Flächen finden wir 1968 im Science-Fiction-Klassiker „2001“ und ebenso auf der realen Connection Machine in den 1980er-Jahren. Ob das Theaterstück den Mythos der Blinkenlights inspirierte, ist eine offene Frage der Historiographie.

Die Gender-ForscherInnen müssen „The Desk Set“ ebenfalls noch entdecken. Auf jeden Fall zeigt die Komödie mehr als die Konfrontation von analogen Frauen und digitalen Männern, denn die Assistentin von Richard Sumner, eine Miss Warriner, ist ja weiblich. Vielleicht bleibt als Fazit eine Weisheit, die wir ähnlich schon aus der Stummfilmzeit kennen: Der Mittler zwischen dem denkenden Kopf (der Frau) und der programmierenden Hand (des Mannes) muss das Herz sein.

„Eine Frau, die alles weiß“ gibt es im Medienhandel auf DVD und die Originalfassung „The Desk Set“ auf archive.org. Das Stück ist immer noch auf amerikanischen Bühnen zu sehen; unser Eingangsfoto stammt aus einer Aufführung der New Yorker Theatergruppe Retro Productions von 2010.

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