Ein vergessenes Rechengerät
Geschrieben am 13.03.2018 von HNF
Vor 85 Jahren beschrieb die „Zeitschrift für Instrumentenkunde“ einen Apparat mit Relais und Drehwählern, wie man sie aus der Telefontechnik kannte. Der Autor des Artikels war der 1908 geborene Adolf Weygandt. Er hatte das Gerät als Student in Göttingen gebaut. Weygandt zeigte damit, dass eine mathematische Formel auch durch eine automatische Maschine berechnet werden konnte.
Der Computer wurde, wie man weiß, von Konrad Zuse und in Berlin erfunden. Im Mai 1941 nahm er – wir haben es im Blog erzählt – den später Z3 genannten Relaisrechner in Betrieb. Er arbeitete digital und im Dualsystem und löste mathematische Aufgaben nach einem per Lochstreifen eingegebenen Programm. Er besaß bereits die fünf kanonischen Elemente Input, Output, Rechenwerk, Steuerwerk und Speicher.
Relais finden wir schon früher in der Lochkartentechnik. Die Tabelliermaschinen aus den 1920er-Jahren konnten mit ihrer Hilfe Zahlen addieren und subtrahieren und die Ergebnisse ausdrucken. 1931 brachte die Firma IBM auch einen multiplizierenden Locher heraus. Er las zwei Zahlen von einer Lochkarte und stanzte anschließend das Produkt der Zahlen hinein. Auf dem Farbfoto unten erkennt man die Relais und daneben die kleine Stecktafel für Kabel; damit wurde die Rechenoperation genau spezifiziert.
1932 entstand in der Universität Göttingen, in der Werkstatt des Instituts für Angewandte Mechanik, der wohl erste wissenschaftliche Relaisrechner. Urheber war der Lehramtsstudent Adolf Weygandt. Das Gerät ist so gut wie vergessen, doch einige Fotos haben überlebt. Außerdem verfasste Weygandt einen Artikel über seinen Rechner, der im Märzheft 1933 der „Zeitschrift für Instrumentenkunde“ erschien. Der Titel lautete „Die elektromechanische Determinantenmaschine“ – wir erklären in Kürze, was der Autor damit meinte.
Adolf Weygandt wurde am 10. April 1908 in Linden bei Hannover geboren; heute gehört der Ort zur Nachbarstadt. Der Vater war leitender Chemiker in einer Ultramarin-Fabrik. Sein Sohn wuchs auf dem Firmengelände zwischen Kesseln, Kohle und Schornsteinen auf und machte 1927 das Abitur. Danach arbeitete Weygandt einige Zeit bei der Post, wo er die Technik der automatischen Telefonvermittlung kennenlernte. Anschließend besuchte er die örtliche Technische Hochschule; 1932 wechselte er zur Universität Göttingen.
Hier verdiente er sich etwas Geld als Hilfsassistent beim Physiker und Nobelpreisträger Max Born. Er hörte auch Vorlesungen beim Physiker Wilhelm Cauer, der nur acht Jahre älter als Weygandt war. Cauer befasste sich mit der Theorie und den Anwendungen von elektrischen Netzwerken. 1928 erfand er einen elektrischen Analogrechner für lineare Gleichungssysteme. Das sind die aus der Schule bekannten zwei, drei oder mehr Gleichungen mit ebenso vielen Unbekannten, die man mit viel Papier, Zeit und Mühe finden kann.
Cauer gelang es nicht, den Rechner zu realisieren; ihm fehlten dazu die technischen und finanziellen Mittel. Das Gleichungsproblem brachte aber seinen Studenten auf eine Idee: Was analog nicht klappt, lässt sich vielleicht digital schaffen. Adolf Weygandt erinnerte sich an die Telefontechnik der Reichspost mit ihren Drehwählern und Relais und entwickelte auf dieser Basis ein Rechengerät. Es fand noch nicht die gesuchten Unbekannten, zeigte aber den Weg zu einer automatischen Maschine, die lineare Gleichungssysteme lösen kann.
Eine solche Maschine sollte Determinanten ermitteln. Eine Determinante wird dabei nach einer festgelegten Formel aus den Elementen eines quadratischen Zahlenfeldes berechnet. Solche Felder, auch Matrizen genannt, ergeben sich bei einem Lösungsverfahren für die erwähnten Gleichungen, der Cramerschen Regel; die zugehörigen Determinanten liefern die Unbekannten. Gabriel Cramer war ein Schweizer Mathematiker und lebte von 1704 bis 1752. Seine Regel wurde zuvor schon von Leibniz entdeckt, aber nicht publiziert.
Beim Entwurf seiner Maschine dachte Adolf Weygandt an ein System mit drei Gleichungen und drei Unbekannten. Daraus kann man – ein Beispiel steht hier – vier Matrizen und vier Determinanten gewinnen; aus letzteren folgen durch Division die Werte für die Unbekannten. Für eine Matrix mit den Zeilen A B C, D E F und G H I erhalten wir die Determinante durch die folgende Formel – A, B, C,… sind dabei positive oder negative ganze Zahlen:
( A x E x I + B x F x G + C x D x H ) – ( C x E x G + A x F x H + B x D x I )
Weygandts Maschine war jedoch nur ein Funktionsmodell mit sehr reduzierten Fähigkeiten. Als Eingabe akzeptierte sie positive zweistellige Zahlen mit den Ziffern 0, 1, 2 oder 3; für manche Zahlen fehlten allerdings die Relais. Die Maschine besaß keine Zehnerübertragung und konnte auch nicht subtrahieren. Sie rechnete nacheinander die beiden Hälften der Determinanten-Formel aus, vollzog also sechs Multiplikationen und vier Additionen. Danach zeigte sie die linke und rechte Summe mit kleinen Lämpchen an.
Trotz ihrer Mängel brachte die Determinantenmaschine Adolf Weygandt die Qualifikation für das höhere Lehramt in den Fächern Mathematik, Physik, Chemie und Biologie ein. Seine Gesamtnote war „Ausgezeichnet“. Weygandt wurde dann Lehrer in Göttingen, setzte aber später sein Studium an der TH Hannover fort. Dort promovierte er Anfang 1938. Das Thema der Doktorarbeit war ein Automat, mit dem sich auch Systeme mit vier oder fünf linearen Gleichungen angehen ließen. Nun erhielt er in Hannover eine Stelle als Studienrat.
Im Krieg arbeitete Weygandt in der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Berlin. Daneben fand er noch Zeit, sich in der TH Hannover zu habilitieren. Nach Kriegsgefangenschaft in Frankreich und einer kurzen Tätigkeit als Rundfunkmechaniker konnte er in den Schuldienst zurückkehren. Ab 1960 lehrte er außerdem an der Heeresoffiziersschule Hannover; nach der Pensionierung war er Berater für das Niedersächsische Kultusministerium. Im Alter zog er mit seiner Frau nach Rosenthal bei Marburg, wo er in den 1990er-Jahren starb.
Adolf Weygandts Determinatenmaschinen, die ersten wissenschaftlichen Relaisrechner in Deutschland, blieben leider nicht erhalten. Wie es scheint, äußerte das Londoner Science Museum 1938 oder 1939 Interesse an einer Übernahme, doch die Sache verlief im Sande. 1942 wurde das Göttinger Gerät in den Akten des Berliner Patentamts erwähnt, welches sich damals mit der Patentierung von Konrad Zuses Relais-Computer befasste. Persönlich kennengelernt haben sich die beiden Pioniere nie.
Die meisten Ihrer Beiträge sind spannend und lehrreich. Schade, dass die Namen der Verfasser/innen stets fehlen und die Quellenangaben eher mager sind.
Die Aussage „Der Computer wurde, wie man weiß, von Konrad Zuse und in Berlin erfunden“ trifft nur bedingt zu, Zuse war einer von mehreren Erfindern. 1)
Mechanische Gleichungslöser gab es schon vor Weygandt, nämlich von Torres Quevedo. 2)
1) und 2): vgl. dazu
De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2015
Meilensteine der Rechentechnik/History of computing
http://www.degruyter.com/view/product/432414
Vielen Dank für das Lob, Herr Bruderer. Die Artikel schreibt der renommierte Journalist Ralf Bülow. Sie haben recht, der Satz zur Erfindung des Computers ist verkürzt, hier haben wir es etwas differenzierter: https://www.hnf.de/dauerausstellung/ausstellungsbereiche/die-erfindung-des-computers.html
Die Leistungen von Torres Quevedo werden wir in einem zukünftigen Beitrag würdigen.
kleine Korrektur zum Text:
Wilhelm Cauer war kein Physiker, sondern von der Ausbildung her ein Mathematiker, der als Elektroingenieur arbeitete.
Seine Rechenmaschine wurde durchaus gebaut konnte aber nicht fertiggestellt werden, weil er als (Teil-)Jude keine finanzielle Unterstützung fand. In seiner Publikation aus dem Jahr 1935 über seine Rechenmaschine kommentiert er auch die Arbeiten von Weygandt und dass der Weg über die Cramer’sche Regel wenig geeignet ist, größere Systeme zu lösen.
Lieber Klaus,
Dein Hinweis ist eine gute Ergänzung zu dem Beitrag. Allerdings ist Cauer tatsächlich Physiker: er hat 1924 an der TH Berlin ein Diplom in „Technischer Physik“ erhalten (vgl. meinen Artikel zusammen mit Emil Cauer und Rainer Pauli: Life and Work of Wilhelm Cauer (1900-1945) – im Internet leicht erhältlich. Über Cauers Rechenmaschine gibt es einen schönen Artikel von Hartmut Petzold (ehem. Deutsches Museum München): Wilhelm Cauer and his Mathematical Device. Artefacts Vol. 1, Robert Bud (ed.) Manifesting Medicine. S. 45-73