Es lebt! – seit 200 Jahren

Geschrieben am 16.06.2016 von

Der künstliche Mensch des Victor Frankenstein zählt zu den bekanntesten Figuren in Literatur und Film. Erdacht wurde er von der jungen englischen Schriftstellerin Mary Shelley am Morgen des 16. Juni 1816. Ihr Roman „Frankenstein“ erschien 1818. Am 200. Geburtstag möchten wir Mary Shelleys Geschöpf vom Grusel befreien und den Bezug zur Informatik und Robotik zeigen.

Im Juni 1816 traf sich eine bemerkenswerte Gruppe junger Briten im Ort Cologny am südwestlichen Ende des Genfer Sees. Zu ihnen gehörten die Dichter Lord Byron – der Vater unserer Computerheldin Ada Lovelace – und Percy Bysshe Shelley, Shelleys Lebensgefährtin Mary Godwin, ihre Stiefschwester Claire Clairmont sowie Byrons Arzt John Polidori. Mit von der Partie war außerdem Marys und Percys kleiner Sohn William.

1816 war das Jahr ohne Sommer. Im April des Vorjahres hatte der indonesische Vulkan Tambora 150 Kubikkilometer Gestein und Asche in die Atmosphäre geblasen. Die Asche verteilte sich über die gesamte Erde und führte in Europa zu Dauerregen, Missernten und Hungersnöten. Auch die Mitglieder unserer Reisegruppe blieben vom schlechten Wetter nicht verschont. Sie saßen abends meist am Kamin der großen Villa, die Lord Byron gemietet hatte, und lasen einander Geistergeschichten vor.

Irgendwann machte Byron den Vorschlag, dass jeder der Anwesenden eine solche Geschichte verfassen solle. Für die 18-jährige Mary war das eine Herausforderung. Ihr Vater William Godwin hatte sich als Philosoph und Romanautor einen Namen gemacht. Ihre verstorbene Mutter Mary Wollstonecraft schrieb 1792 die „Verteidigung der Rechte der Frau“, ein frühes Buch zum Feminismus. Und morgens beim Frühstück quälte Shelley seine Freundin mit der Frage „Ist Dir schon eine Geschichte eingefallen?“.

Mary Shelley um 1840

Mary Wollstonecraft Shelley, Gemälde von Richard Rothwell von ca. 1840 (National Portrait Gallery, London, CC BY-NC-ND 3.0)

Die rettende Idee kam Mary in den Morgenstunden des 16. Juni 1816. Nach schlafloser Nacht wirbelten Traumgesichter durch ihren Kopf. Plötzlich erblickte sie „den bleichen Jünger einer schrecklichen Wissenschaft vor dem Wesen knieen, das er geschaffen hatte. Ich sah das grässliche Trugbild eines Menschen und wie es durch die Kraft einer mächtigen Maschine zum Leben erwachte und sich in ungelenker, aber fast natürlicher Weise bewegte.“ Am Tage brachte sie die ersten Worte zu Papier: „Es war in einer trostlosen Novembernacht…“

Daraus entwickelte sich ein Roman mit drei Bänden. Am 11. März 1818 erschien „Frankenstein, oder der moderne Prometheus“ anonym in London. Die zweite Auflage von 1823 nannte die Autorin – Mary Shelley. Mary und Percy hatten Ende 1816 geheiratet, im Juli 1822 starb der Dichter bei einem Bootsunglück in Italien. 1831 war es Zeit für die dritte Auflage des Romans, auf der die meisten deutschen Fassungen basieren. Der Untertitel meint dabei nicht Prometheus den Feuerbringer, sondern spielt auf einen anderen Mythos an, in dem der antike Held Menschen erschafft.

Denn das ist das Thema des Buchs. Titelheld Victor Frankenstein stammt aus Genf, studiert im bayrischen Ingolstadt und erzeugt aus Leichenteilen einen namenlosen künstlichen Mann. Der bringt später Victors kleinen Bruder um. Victor und sein Geschöpf treffen sich in den Alpen und es verlangt von ihm eine Gefährtin. Victor beginnt mit dem Bau, gibt aber auf. Der Kunstmann tötet daraufhin Viktors Freund Henri und Victors Braut. Victor verfolgt den Unhold in die Arktis und stirbt. Der Roman endet damit, dass das Geschöpf seinen Selbstmord im Eis ankündigt.

Diese Geschichte, die sich über mehrere Jahre hinzieht, breitete Mary Shelley auf drei Ebenen aus. Die erste bilden die Briefe eines Polarforschers namens Robert Walton. Er sitzt mit seinem Schiff im Eis fest und nimmt Victor Frankenstein auf, der seinem Geschöpf nachjagt. Victor erzählt Walton sein Leben – das wäre die nächste Ebene – und was er von dem Wesen hörte, das er aus totem Fleisch erzeugte. Der lange Bericht des künstlichen Menschen ist die letzte Ebene und der Kern des Romans.

Das ging schief! - Ein Bild aus der Ausgabe von 1831

Das ging schief! – Ein Bild aus dem „Frankenstein“ von 1831

1823 kam „Frankenstein“ in London auf die Bühne. In dem mit Musik und Gesang verschönerten Drama hören wir zum ersten Mal den Satz „Es lebt!“. 1910 lief in den USA die erste Verfilmung an, produziert vom Studio des Erfinders Thomas Edison. Der bekannteste Kino-Frankenstein entstand 1931 in Hollywood mit Boris Karloff in der Hauptrolle. Die Fortsetzung enthält einen netten Prolog, der die Gesprächsrunde mit Lord Byron, Mary Godwin und Percy Bysshe Shelley nachstellt.

Bislang hat aber noch kein Film das Buch korrekt erfasst. Die Story spielt, was stets übersehen wird, in den 1790er-Jahren. Wir wählten deshalb ein Eingangsbild, das einen unbekannten Forscher des 18. Jahrhunderts zeigt. Rätselhaft bleibt, warum der im calvinistischen Genf geborene Frankenstein im katholischen Ingolstadt studiert. Mary mag an damals populäre Schauerromane gedacht haben, die alte Ortschaften, verfallene Häuser und heimtückische Mönche mitbrachten. Ingolstadt war außerdem die Heimat des mysteriösen Illuminaten-Ordens.

„Frankenstein“ ist in erster Linie eine Gruselgeschichte. Zugleich vermittelt der Roman tiefe Einsichten in die Informationsverarbeitung. Nachdem er zum Leben erweckt wurde, kann der Kunstmensch denken und fühlen, besitzt aber keine Gedächtnisinhalte. Diese muss er aus eigener Kraft sammeln. Er versteckt sich in einem Haus und beobachtet über Monate eine kleine Familie, die es aus Paris nach Bayern verschlug. Dadurch erlernt er die französische Sprache und das Lesen. Weiteres Wissen erwirbt er aus Büchern, die er im Wald findet, darunter „Die Leiden des jungen Werthers“.

1921 erlebte in Prag das Drama „R.U.R.“ seine Premiere. Autor Karel Čapek ließ darin Kunstmenschen aus organischem Material agieren, die Roboter. Sie vernichten alle Erdenbürger, und ein weiblicher und ein männlicher Roboter gehen daran, eine neue robotische Menschheit zu schaffen. Auch Victor Frankenstein befürchtet ein „Geschlecht von Teufeln“, das sich über die Welt ausbreitet. Deshalb verzichtet er darauf, für seinen künstlichen Mann eine ebenso künstliche Frau zu schaffen.

Mary Shelleys Geschichte ist uns also näher als gedacht. Und wer Monsieur Frankenstein einmal live an der Stätte seines Wirkens erleben möchte, kann sich in Ingolstadt einer Mystery Tour anschließen. Wir wünschen frohes Schaudern. Das Eingangsbild kommt aus der National Gallery London, CC BY-NC-ND 4.0.

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