Fernsehen vor Gericht
Geschrieben am 31.07.2020 von HNF
Vor sechzig Jahren erhielt die Bundesrepublik ein zweites TV-Programm. Am 1. August 1960 wurde das Deutschland-Fernsehen ins Handelsregister eingetragen. Es sollte 1961 den Betrieb aufnehmen. Für das Programm gab es die Freies Fernsehen GmbH mit unfertigen Studios in Eschborn. Im Dezember 1960 stoppte das Bundesverfassungsgericht das Projekt. Im Februar 1961 fällte es ein wegweisendes Urteil.
Wer sich vor sechzig Jahren, am 31. Juli 1960, vor den Fernseher setzte, hatte kein Problem mit der Wahl des Kanals. Nach der Fünf-Minuten-Tagesschau lief die Komödie „Dr. Knock oder Der Triumph der Medizin“ und der Fernseh-Essay „Das goldene Zeitalter“, in der DDR gab es um acht eine tänzerische Szenenfolge und um halb neun eine Musikshow aus der Tschechoslowakei. Mit anderen Worten: Die ARD und der Deutsche Fernsehfunk sendeten jeweils nur ein Programm.
Im Westen war es in der Regel frei von Politik. Kritische TV-Magazine waren noch nicht erfunden; nur selten rutschte ein Film herein, der Missstände anprangerte. Ein Beispiel ist dieser Bericht von 1959 über die Wissenslücken deutscher Schüler. Er kam vom Hessischen Rundfunk, also aus einem Bundesland mit einem SPD-Ministerpräsidenten. In Bonn regierten CDU und CDU; bei der Bundestagswahl von 1957 hatte Kanzler Adenauer die absolute Mehrheit errungen.
Zu jener Zeit fanden zwei Interessengruppen zusammen. Auf der einen Seite standen Firmen und Verlage, die von einem Privatfernsehen träumten. Es sollte durch Werbung finanziert werden und die Umsätze der Wirtschaft steigern. Auf der anderen Seite treffen wir christlich-demokratische Politiker, allen voran Konrad Adenauer. Er befürchtete Schlimmes für die Entwicklung des Fernsehens und von den Sendeanstalten aus SPD-geführten Ländern. Als Lösung bot sich ein CDU-nahes TV-Programm für die gesamte Bundesrepublik an.
Am 5. Dezember 1958 kam es zur Gründung einer GmbH mit dem Namen Freies Fernsehen. Sie saß in Frankfurt und sollte das Programm des neuen Kanals erstellen. Geschäftsführer waren der Ingenieur und Ex-Staatssekretär Friedrich Gladenbeck und Heinz Schmidt, der Pressesprecher des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Programmdirektor wurde der Schriftsteller Gerhard Eckert und Chefredakteur der junge Journalist Konrad Kraemer. Die Unterhaltung betreute der Zauberer Kalanag, die Produktionsleitung übernahm der Autor Ernest Bornemann. Er hatte im englischen Exil Fernseherfahrung erworben.
Ein Jahr später flossen, durch eine Bürgschaft der Regierung abgesichert, die ersten Gelder für Fernsehproduktionen. Gedreht wurde in Studios in Unterföhring bei München und in Berlin-Spandau. Erst im August 1960 erwarb die TV-Firma das Areal für die Sendezentrale. Es lag in Eschborn am Rand von Frankfurt; die provisorischen Gebäude erhielten schnell die Bezeichnung Telesibirsk. Am 25. Juli 1960 schuf Konrad Adenauer noch die Deutschland-Fernsehen GmbH als Dachgesellschaft und Lizenzträger des zweiten Programms.
Sie bildete das Ende eines jahrelangen Tauziehens zwischen Bund und Ländern um die Neugestaltung des Rundfunks. Der Bund reservierte sich 51 Prozent der Anteile, der Rest entfiel auf die Bundesländer. Sie lehnten die Konstruktion sofort ab, so dass Justizminister Fritz Schäffer als Treuhänder einsprang. Am 1. August 1960 wurde die Gesellschaft ins Handelsregister Köln eingetragen. Am gleichen Tag beantragte sie bei der Post TV-Frequenzen ab dem 1. Januar 1961. Dann sollte das Deutschland-Fernsehen auf Sendung gehen.
Es kam, wie es kommen musste. Im Spätsommer 1960 wandten sich Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Hessen – überall regierte die SPD – ans Bundesverfassungsgericht. Sie wähnten ihre Zuständigkeit für Rundfunkprogramme verletzt. Dabei stützten sie sich auf Artikel 30 des Grundgesetzes, der ihnen die Ausübung staatlicher Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben zuwies. Die Regierung berief sich auf Artikel 73, Punkt 7, der dem Bund das Postwesen und die Telekommunikation anvertraute.
Am 17. Dezember 1960 feuerte das Karlsruher Gericht den ersten Schuss ab. Mit einer einstweiligen Anordnung stoppte es den Start des neuen Fernsehens. Am 28. Februar 1961 folgte das Urteil; für Kanzler Adenauer war es eine Katastrophe. Die Verfassungshüter gaben bekannt, dass die Schaffung der Deutschland-Fernsehen GmbH gegen das Grundgesetz verstieß. Ihrer Ansicht nach war die Bundesregierung für den sendetechnischen Bereich des Rundfunks zuständig, jedoch nicht für die Organisation von Sendungen.
Mit dem 1. Rundfunk-Urteil, wie es später genannt wurde, schuf das Gericht die juristische Basis der deutschen Medienpolitik. Der Urteilstext lässt sich hier nachlesen und hier anhören. Einen informativen Artikel zum Geschehen brachte der SPIEGEL. Wer sich für die Hintergründe interessiert, sollte die 2018 erschienene Verschlusssache Karlsruhe von Thomas Darnstädt studieren. Nur antiquarisch erhältlich ist das Buch Freies Fernsehen des Medienforschers Rüdiger Steinmetz von 1996.
Die Freies Fernsehen GmbH und das Deutschland-Fernsehen wurden nach dem Karlsruher Richterspruch abgewickelt. Die Studios von Telesibirsk übernahm das neue und juristisch korrekt gegründete ZDF. 1963 begann es zu senden; 1964 zog es nach Wiesbaden und 1967 nach Mainz. Es strahlte auch Serien aus, die für das Adenauer-Fernsehen entstanden waren, etwa „Alarm in den Bergen“, „Slim Callaghan greift ein“ und „Curd Jürgens erzählt“. Das „Heinz-Erhardt-Festival“ landete beim nur kurz existierenden Senderverbund ARD 2.
Die Crew der Freien Fernsehen GmbH zerstreute sich. Magier Kalanag starb 1963, Ernest Bornemann avancierte zu einem viel gelesenen Sexualforscher. Die 1960er- und 1970er-Jahre wurden zur goldenen Ära der kritischen Fernsehformate, in den Achtzigern brachte uns die Regierung dann das Privatfernsehen. Unser Eingangsbild zeigt eine TV-Kamera aus der guten alten Zeit. Das Schild Fernseh GmbH hat nichts mit den beschriebenen Gesellschaften zu tun, sondern gehörte einer früher sehr bekannten Firma für Studiotechnik.