Hans Magnus Enzensberger (1929-2022)

Geschrieben am 11.11.2019 von

Am 11. November 1929 wurde er in Kaufbeuren geboren: Hans Magnus Enzensberger wuchs in Nürnberg auf, studierte und promovierte. Dann begann ein rastloses Leben zwischen Europa und Amerika; seit 1979 wohnte Enzensberger in München. Er verfasste Gedichte, entwarf einen Poesie-Automaten, schrieb über Literatur, Wissenschaft und Medien und ebenso für das HNF. Am 24. November 2022 starb er in München.

„Lochstreifen flattern vom Himmel / Es schneit Elektronen-Braille / Aus allen Wolken / fallen digitale Propheten“ – so beginnt die Blindenschrift von Hans Magnus Enzensberger. Sie steht in der gleichnamigen Gedichtsammlung von 1964. Mit den Lyrikbänden „Verteidigung der Wölfe“ von 1957 und der 1960 erschienenen „Landessprache“ begründete sie den Ruhm des Verfassers. Auf die Werke folgten eine Vielzahl von Poemen, Dramen, Prosa- und Sachtexten, nicht zu vergessen die Kinderbücher.

Der „Landsberger Poesieautomat“ in Marbach. (Foto Fabian Neidhardt CC BY-SA 4.0)

Hans Magnus Enzensberger wurde am 11. November 1929 in Kaufbeuren geboren; sein Vater war Fernmeldeingenieur. 1931 zog die Familie nach Nürnberg. Das Abitur machte der künftige Dichter 1949 in Nördlingen. Er studierte dann Literaturwissenschaft in Erlangen, Freiburg, Hamburg und Paris. Nach der Promotion 1955 arbeitete Enzensberger als Redakteur beim Südwestfunk Stuttgart. Aufsehen erregte 1957 seine Analyse der SPIEGEL-Sprache; sie wurde im Radio gesendet und anschließend vom SPIEGEL selbst gedruckt.

Im gleichen Jahr verließ er den Rundfunk. Er begann das Leben eines freien Schriftstellers, gelegentlich unterbrochen durch Zeitverträge. Seine Gedichte und Essays etablierten ihn als eloquenten Gesellschaftskritiker. 1965 startete er die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Kursbuch; sie wurde zur Pflichtlektüre der linken Oppositionellen. Die Ausgabe vom März 1967 widmete sich der Logik und der Computerphilosophie. Sie enthielt in deutscher Übersetzung den berühmten Aufsatz von Alan Turing zum Imitationsspiel und einen Text John von Neumanns über Automatentheorie.

Enzensberger mit HNF-Geschäftsführer Norbert Ryska (l.) und Architekt Ludwig Thürmer (r.) 1994 vor dem HNF (Foto Jan Braun/HNF)

1969 kehrte Enzensberger nach mehreren Monaten in Kuba enttäuscht in seinen Wohnort West-Berlin zurück. Trotz schlechter Erfahrungen im Lande Fidel Castros blieb er ein Linker. Das „Kursbuch“ brachte im März 1970 seinen Baukasten zu einer Theorie der Medien, die Vision einer sozialistischen Kommunikation. Politisch moderat geworden, nannte er 1988 im SPIEGEL das Fernsehen Die vollkommene Leere; das World Wide Web kam 2000 als Das digitale Evangelium etwas besser weg. 2016 sah er jedoch Elektronik als Massenbetrug.

Das gilt hoffentlich nicht für seinen eigenen Beitrag zur Welt der Bits und Bytes, den Poesie-Automaten. Ihn skizzierte er 1974 als theoretischen Entwurf. Im Winter 1999/2000 wurde er von der italienischen Firma Solari gebaut. Sie erfand in den 1950er-Jahren die Faltblatt-Anzeige, wie man sie aus Bahnhöfen und Flughäfen kennt. Damals schrieben auch der Engländer Christopher Strachey und Theo Lutz in Stuttgart erste dichtende Programme. Ab 2006 konnte man die Poesiemaschine im Literaturmuseum Marbach bewundern.

Hans Magnus Enzensberger nimmt 2017 Abschied von seiner IBM-Schreibmaschine. Sie kam in die Sammlung des HNF.

Ein Jahr nach dem Automaten-Entwurf verfasste Enzensberger das „Mausoleum“, laut Untertitel 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts. Darunter finden wir Lobgesänge auf die IT-Pioniere Leibniz, Babbage und Turing. In den Neunzigern kam es zum Kontakt zwischen Enzensberger und dem im Aufbau begriffenen HNF; eingeleitet hatte ihn der Architekt Ludwig Thürmer. Seit der Eröffnung kann man die drei Computerballaden in der Galerie der Pioniere im Kopfhörer vernehmen, dazu eine vierte über John von Neumann.

Enzensbergers Hauptwerk im Museum ist aber der Begrüßungstext. Er sieht die Exponate nicht als Rechner, sondern als Medien: „Der bisher letzte Schritt der Mediengeschichte ist die Entwicklung des Computers, des Chips, seiner vielfältigen Anwendungen. Unser Zugriff auf Netz, Speicher und Rechenkapazität ist nahezu unbegrenzt. Was wir damit anfangen werden, steht in den Sternen.“ Zuletzt besuchte Enzensberger das HNF 2012 für eine Lesung. Im Jahr 2017 stiftete er seine IBM-Schreibmaschine.

Der Enzensberger-Stern ist eine 3D-Figur, die der Mathematiker Herwig Hauser für die Deutsche Mathematiker-Vereinigung entwarf. (Bild Alexander Zimmermann CC BY-SA 3.0)

Seine Beiträge zur Forschung gab der Suhrkamp Verlag 2002 in der Sammlung „Die Elixiere der Wissenschaft“ heraus. Bei Hanser erschien 1997 „Der Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben“. Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung revanchierte sich 2006 mit dem Enzensberger-Stern.

Eingangsbild: Jan Braun/HNF

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Ein Kommentar auf “Hans Magnus Enzensberger (1929-2022)”

  1. Die Neue Westfälische schreibt über den Hausdichter des HNF
    „MAGNUS ENZENSBERGER ZIEHT ES NACH PADERBORN
    Paderborn
    Hans Magnus Enzensberger zieht es nach Paderborn
    Der Dichter und Intellektuelle im Heinz-Nixdorf-Forum

    VON THOMAS KLINGEBIEL
    08.11.2012
    „Wir sind einfach nicht intelligent genug“
    Die Frage, ob es je so etwas wie wirkliche künstliche Intelligenz geben wird, hält Enzensberger im Ansatz für einen Kategoriefehler, „wie es in der Philosophie heißt“. „Wir wissen nicht, was Intelligenz, was Bewusstsein ist. Wir sind einfach nicht intelligent genug, um zu wissen, was Intellekt ist“, sagt er. Unter dem streng gescheitelten Weißhaar blitzt dem Fragesteller eine Mischung aus sonnigem Lächeln und amüsiert hochgezogenen Augenbrauen entgegen, die das ohnehin unterschwellig nagende Gefühl intellektuellen Nichtgenügens unangenehm verstärkt.

    Dem HNF ist HME schon seit der Planungsphase verbunden. Im Eingangsbereich prangt auf einer kreisrunden blauen Scheibe das von Enzensberger formulierte „Credo“ des Museums, „eine erste Handreichung für den Besucher“, wie Enzensberger es nennt. Über den im HNF gewürdigten Mathematiker John von Neumann schrieb er eigens eine Ballade im „Mausoleum“-Stil. Derzeit hat das Paderborner Museum Alan Turing die Sonderaussstellung „Genial & Geheim“ gewidmet (noch bis 16. Dezember).

    Der legendäre Mathematiker und Computerpionier wäre am 23. Juni 100 Jahre alt geworden. Teil der Turing-Ausstellung ist die interaktive Installation „Love Letters“ des Kölner Documenta-Künstlers David Link. Sie lädt dazu ein, einen Automaten auf Knopfdruck hin Liebesbriefe generieren zu lassen. Enzensberger zeigt sich höflich amüsiert. 1974 hat er für ein Lyrikfestival in Landsberg bereits selbst einen „Poesieautomaten“ konzipiert, der noch heute im Literaturarchiv in Marbach fleißig Gedichte rausrattert. Es dürfte schwer sein, ein Gebiet zu finden, auf dem dieser Abenteurer des Geistes sich noch nicht maßgeblich getummelt hat.

    Was das eigene Arbeiten angeht, scheint der Automaten-Fan überraschend altmodisch zu sein. Zwar hat er, wie er sagt, Grimms Wörterbuch „aus praktischen Gründen“ auf der Festplatte, und er guckt auch Fernsehen („Ich bin ein bisschen nachrichtensüchtig“). Auf ein Handy verzichtet er jedoch konsequent. Die Erklärung des Mathematik-Begeisterten klingt logisch, fast wie eine Art Binärcode des gesunden Alltagsverstands: „Entweder ich bin da, oder ich bin nicht da. Wenn ich nicht da bin, bin ich nicht da – und fertig.“

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