Hör doch mal ab
Geschrieben am 29.05.2018 von HNF
Artikel 10 des Grundgesetzes lautet in der Urform: Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Vor fünfzig Jahren segnete der Bundestag eine Regel ab, die solche Anordnungen möglich machte. Seitdem dürfen die deutschen Geheimdienste in eigener Regie Briefe öffnen und Telefonate mithören und speichern.
Vor dem Haus erhoben sich Sperrgitter, Wasserwerfer standen bereit. Im Inneren stimmten 506 Abgeordnete über das meist diskutierte Gesetzespaket des Jahres ab. Am Ende des Tages – des 30. Mai 1968 – hatte der Deutsche Bundestag mit Zweidrittelmehrheit die Notstandsgesetze gebilligt. Da weder Protestler noch Revolutionäre erschienen waren, wurden die Gitter wieder abgebaut, und die Wasserwerfer fuhren in ihre Garagen zurück.
So lief die Politik anno Achtundsechzig in der Bundeshauptstadt Bonn. Der Kanzler hieß Kurt Georg Kiesinger und kam von der CDU; der Außenminister war SPD-Chef Willy Brandt. Die beiden leiteten eine Große Koalition und brachten jene Gesetze über die parlamentarischen Hürden. Sie sollen in Krisen- und Kriegszeiten die staatlichen Funktionen sicherstellen. Zugleich wurde damals eine Bestimmung verabschiedet, die gar nicht für den Notfall gedacht war, sondern für die Kommunikation per Brief oder mit technischen Mitteln.
Das war das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, auch bekannt als Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz oder G-10-Gesetz. Der SPIEGEL nannte es kurz und treffend das Abhörgesetz. Denn es erlaubte den westdeutschen Geheimdiensten unter Mithilfe der Post, „dem Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis unterliegende Sendungen zu öffnen und einzusehen, sowie den Fernschreibverkehr mitzulesen, den Fernmeldeverkehr abzuhören und auf Tonträger aufzunehmen“.
Konkrete Lauschaktionen erfolgten, wie es sich gehört, nach einem schriftlichen Antrag. Die Landesämter für Verfassungsschutz wandten sich an die jeweilige Landesbehörde, für die anderen Dienste war ein „vom Bundeskanzler beauftragter Bundesminister“ zuständig. Als Begründung reichte bereits die Angabe, dass die Abhörmaßnahme half, „die Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland rechtzeitig zu erkennen und einer solchen Gefahr zu begegnen“.
Alle Aktionen geschahen geheim, oder wie es Artikel 1, Paragraph 4, Absatz 5 ausdrückte: „Über Beschränkungsmaßnahmen ist der Betroffene nicht zu unterrichten.“ Der mit dem Abhörvorgang befasste Minister informierte jedoch zweimal pro Jahr ein Gremium von fünf Bundestagsabgeordneten. Schon jeden Monat wurde eine ausgewählte Dreiergruppe in Kenntnis gesetzt, die G-10-Kommission. Sie konnte bereits angelaufene Lauschvorgänge überprüfen und gegebenfalls stoppen. Das Gremium und die Kommission waren nach außen zu strengstem Stillschweigen verpflichtet.
Der einst nur achtzehn Worte lange Artikel 10 des Grundgesetzes wurde ebenfalls geändert und las sich so: „(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. (2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.“
Nun durften die Ämter für Verfassungsschutz, das Amt für die Sicherheit der Bundeswehr – der heutige Militärische Abschirmdienst – und der Bundesnachrichtendienst eine Tätigkeit ausüben, die nach Kriegsende die drei Westalliierten übernommen hatten. Um den SPIEGEL zu zitieren: „In Hinterstuben westdeutscher Postämter waren regelmäßig Ausländer zu Gast, die freundlich grüßten, Telephonleitungen anzapften, bündelweise Briefschaften einpackten und mitunter Whisky und Zigaretten daließen.“
Im Kalten Krieg wurde landauf landab das Brief- und Fernmeldegeheimdienst gebrochen, auch nach Gründung des Bundesrepublik 1949 und dem Ende des Besatzungsstatus sechs Jahre später. Wichtiger als das Grundgesetz war stets die Sicherheit der amerikanischen, britischen und französischen Streitkräfte auf deutschem Boden. Am eifrigsten lauschten die US-Geheimdienstler. Als Dankeschön erhielten westdeutsche Schlapphüte gelegentlich Tonbänder von abgehörten Telefonaten und Photokopien von geöffneten Briefen.
Das Inkrafttreten des G-10-Gesetzes am 1. November 1968 störte die alliierten Spione kaum. Sie reichten ihre Wünsche jetzt beim Bundesnachrichtendienst ein, der einen passenden Abhörantrag schrieb. Trotz aller Mängel segnete das Bundesverfassungsgericht das Gesetz 1970 und 1984 ab. 1978 erfolgte eine Bestätigung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Im gleichen Jahr wurde das Gesetz novelliert: die G-10-Kommision durfte jetzt amtlich genehmigte Abhöraktionen schon vor dem Start blockieren.
Kurz vor der Jahrtausendwende schritt das Verfassungsgericht dann doch ein. 1994 hatte der BND durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz erweiterte Befugnisse für das Abhören erhalten; dadurch gewonnen Erkenntnisse leitete er freigiebig an Polizei und Staatsanwälte weiter. Diese Praxis wurde 1999 von den Karlsruher Verfassungshütern untersagt. 2001 erließ der Bundestag – nicht mehr in Bonn sondern in Berlin – ein „Gesetz zur Neuregelung von Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses“.
Umfasste das alte Gesetz von 1968 nur vier Seiten und dreizehn Paragraphen, so enthielt das neue 21 von ihnen. Nummer 15 widmet sich der G-10-Kommission: Diese besteht inzwischen aus dem Vorsitzenden, drei Beisitzern und vier stellvertretenden Mitgliedern. Leiter ist zur Zeit der ehemalige CDU-Abgeordnete Andreas Schmidt. Die letzten bekannt gewordenen Zahlen zu ihren Aktivitäten stammen vom Februar 2017. Wie man dort sieht, genehmigte die Kommission im Jahr 2015 insgesamt 193 „Beschränkungsmaßnahmen“.
Hierbei lauschten Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst und BND nur für sich. Denn die Zusammenarbeit mit den ausländischen Geheimdiensten endete im August 2013, wohl als Folge der Enthüllungen von Whistleblower Edward Snowden. Fünfzig Jahre nach den wilden Wochen von 1968 – unsere Wochenschau startet gleich mit den Notstandsgesetzen – bleiben wir beim Abhören also völlig unter uns. . .
Das Eingangsbild zeigt das Telefon W48 (Foto: Jan Braun, HNF).
Das Gläserne Telefon, dass übrigens auch Papst Johannes Paul II. von Nixdorf geschenkt bekam,
ist tatsächlich ein gutes Sinnbild für die Tätigkeit der Telefon-Hacker. Gratuliere dem HNF-Blogger zu dieser Assoziation.
Für den Bereich „Datenschutz“ war in der Planung des HNF sogar ein „Gläserner Mensch“ à la Dresden vorgesehen. Nur wer könnte heute noch so was bauen ?!