Im Spannungsfeld
Geschrieben am 26.02.2016 von HNF
Am 29. Juni 1970 erstellte der US-Geheimdienst CIA eine interne Studie über den Einfluss des Computers auf Politik und Gesellschaft der DDR. James Ogle, der Autor der Studie, glaubte an einen „kybernetischen Revisionismus“ und an das allmähliche Ende der strengen kommunistischen Planung. Wie sah es aber wirklich in der ostdeutschen Computerszene jener Jahre aus?
Ein Geheimdienst hat nicht nur die Aufgabe, die neuesten Erkenntnisse seiner Spione schnell aufzubereiten und den Verantwortlichen in Politik und Militär zu übermitteln. Er beobachtet auch über längere Zeit die Zustände in einem feindlichen oder freundlichen Land und fertigt ausgeklügelte Analysen an. Sind genügend Jahrzehnte verstrichen, werden diese Analysen – mit gelegentlich überklebten Namen und Bezeichnungen – sogar freigegeben und ins Internet gestellt.
2007 veröffentlichte die amerikanische Central Intelligence Agency einen ganzen Schwung solcher Studien, die CAESAR-, POLO- und ESAU-Papiere. Sie wurden zwischen 1953 und 1973 erstellt und behandelten die Supermächte Sowjetunion und China sowie die Länder in ihren Einflusszonen. Von Interesse für deutsche Leser ist dabei eine Arbeit des Osteuropa-Spezialisten James Ogle, die 60 Seiten umfasst und den merkwürdigen Titel The Prussian Heresy: Ulbricht’s Evolving System trägt.
Die preußische, sprich ostdeutsche Häresie und das sich evolutionär entwickelnde System von DDR-Chef Walter Ulbricht stehen für die Ausbreitung des Computers und seiner Theorie. Das ist die Kybernetik, die nicht nur System-, Regel-, Nachrichten- und Rechentechnik verknüpft, sondern auch wichtige Erkenntnisse über Wirtschaft, Wissenschaft und Politik liefert. Mittelfristig führt sie laut Ogle zu einer Modernisierung und Verwestlichung der DDR, zum „kybernetischen Revisionismus“.
Tatsächlich wurden in den 1960er-Jahren beide deutsche Staaten von der Kybernetikwelle erfasst. Die Kybernetikbücher des DDR-Philosophen Georg Klaus verkauften sich ebenso in der Bundesrepublik. Staatsratsvorsitzender Ulbricht schätze die neue Wissenschaft. 1966 nahm im DDR-Ministerrat der Ingenieur Günther Kleiber den Dienst auf: Er war stellvertretender Minister für Elektrotechnik und Elektronik und koordinierte als Staatssekretär den Einsatz und die Nutzung der EDV.
Im folgenden Jahr begann die Produktion des ersten DDR-Großcomputers Robotron R300, von dem bis 1972 rund 350 Exemplare entstanden. Ab 1969 lief der Kleinrechner Cellatron C8205 vom Band, der über 3.000 mal gefertigt wurde. Auch das DDR-Kino ließ sich vom Computervirus anstecken. Anfang 1970 startete der Film Im Spannungsfeld, der lang und breit die Probleme der sozialistischen Datenverarbeitung diskutierte und sie am Ende zum Wohl der Werktätigen löste. Er wurde von fast 1,5 Millionen Kinogängern gesehen; unten steht ein Bericht zum Film aus der DDR-Zeitschrift „Filmspiegel“ .
Die Kybernetik und die ihr zugrunde liegende Idee des Regelkreises, der von selbst zum Ziel findet, waren im Osten bekannt. Doch folgten daraus praktische Anwendungen oder gar eine neue Politik? In den 1960er-Jahren erprobte die DDR-Spitze das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ und das „Ökonomisches System des Sozialismus“, die den Betrieben ein wenig Autonomie gewährten, doch in den frühen Siebzigern war die Zeit der kleinen Freiheiten vorbei, und 1971 wurde Walter Ulbricht von Erich Honecker entmachtet.
Statt eines kybernetischen Revisionismus gab es die vertraute kommunistische Planwirtschaft und statt der preußischen Häresie die Funktionäre in Ost-Berlin und die Freunde in Moskau. Die Stasi in Berlin-Lichtenberg suchte derweil nach Spionen und Saboteuren aller Art. Zu spüren bekam das der Begründer der DDR-Mikroelektronik, der Dresdner Physiker und TU-Professor Werner Hartmann. Nach einer Intrige verlor er 1974 die Leitung der Arbeitsstelle für Molekularelektronik und verschwand in einem Industriebetrieb in der sächsischen Provinz.
Die prophetische Fähigkeit von CIA-Analytiker Ogle war also begrenzt, doch bietet seine Studie einen Blick ins Handwerk des Geheimdienstlers. In Kapitel IV berichtet Ogle mit vielen wörtlichen Zitaten von einem Informanten, der in den 1960er-Jahren als wissenschaftlicher Berater des DDR-Ministerrats tätig war. Vor der Freigabe der Studie wurde der Name des Mannes im Text gelöscht, an vier Stellen blieb er aber stehen. Es handelte sich um den Diplom-Wirtschaftler Werner Obst, der im August 1969 über Rumänien in den Westen floh. Dort schrieb er später diverse Bücher über den Ostblock.
Es ist unklar, ob Obst von der CIA befragt wurde oder ob seine Aussagen über den BND nach Amerika gelangten. James Ogle verwendete aber auch offene Quellen wie die Zeitung „Neues Deutschland“ und das 1968 erschienene Buch „Parteielite im Wandel“ des West-Berliner DDR-Forschers Peter Ludz. Eine umfassende Geschichte der DDR-Kybernetik legte Verena Witte 2011 in ihrer Dissertation vor. Ein herausragender Zeitzeuge ist schließlich der Berliner Physiker Horst Völz.
Eingangsbild: Eckard Grieshammer, Archiv der Hochschule für Ökonomie, CC BY-SA 3.0 DE