Keiner weiß, was Kybernetik ist

Geschrieben am 26.01.2016 von

1968 betrat die Wissenschaft der Informatik die akademische Bühne, doch zuvor gab es schon die Kybernetik, eine Mixtur aus Computer-, Nachrichten- und Regelungstechnik mit Elementen aus Informationstheorie, Biologie und Philosophie. Ein Bild von ihr vermittelt eine Zeitschrift, die seit 1960 erscheint, die „Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft“. Wir sahen uns die ersten sechs Jahrgänge an.

Heute ist sie nur noch Best Agern und Silver Surfern ein Begriff, doch vor einem halben Jahrhundert kannten sie die Gebildeten in Ost und West. Sie war ein Liebling des Feuilletons – die Kybernetik. Erfunden wurde sie vom amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener, dessen Buch „Cybernetics“ 1948 die Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschinen erklärte. Wieners Lehre von der strukturellen Ähnlichkeit von Biologie und Technik verbreitete sich schnell, 1956 zierte sein Foto das Cover des SPIEGEL.

Auch der Buchmarkt sah seine Chance. So erschienen Werke wie „Automat und Mensch“ (1961) für die Intelligenz oder „Keiner weiß was Kybernetik ist“ (1968) fürs Volk. Und schon 1960 war die erste Fachzeitschrift erhältlich, die „Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaften“. Redakteur war der 26-jährige Mathematiker und promovierte Philosoph Helmar Frank, der damals als Gymnasiallehrer in Schwaben arbeitete. 1961 wechselte er aber in die TH Karlsruhe und 1963 auf eine Professorenstelle in der Pädagogischen Hochschule Berlin.

Zu den Herausgebern der neuen Zeitschrift zählten Max Bense, Anführer der Stuttgarter Schule der Medienkunde, seine Assistentin Elisabeth Walther, der Kommunikationsforscher Gerhard Eichhorn sowie der Erziehungswissenschaftler und Bense-Schüler Felix von Cube. Auswärtige Mitglieder waren der Computerdenker Gotthard Günther, den wir bereits letztes Jahr in unserem Blog vorstellten, und der französische Akustikspezialist Abraham Moles.

Die Interessen der Berater schlugen sich, wie man sich denken kann, im Inhalt der Zeitschrift nieder. In den ersten vier Jahren schrieb Max Bense elf Artikel über Forschungen in der mathematischen Ästhetik, vier weitere steuerte Elisabeth Walther bei. Fleißig war auch Felix von Cube: Von 1960 bis 1965 finden wir acht Texte von ihm zur kybernetischen Pädagogik. Überflügelt wurden aber alle von Helmar Frank, der in derselben Zeit 16 Beiträge veröffentlichte, in der Regel über Psychologie, Neurologie und Didaktik, sowie eine Buchbesprechung.

Georg Nees: Würfel-Unordnung, 1968-1971

Georg Nees: Würfel-Unordnung, 1968-1971. (Foto: Jan Braun, HNF)

Die Computertechnik kam in den „Grundlagenstudien“ nur am Rande vor, doch erschienen 1963 zwei Artikel über die Lernmatrix der TH Karlsruhe, ein frühes neuronales Netz. Der Erfinder des Geräts, der Physiker Karl Steinbuch, widmete sich in Heft 1/1962 dem Thema Bewusstsein und Kybernetik, und ein junger Ingenieur schilderte „Eine digitale Modelldarstellung des bedingten Reflexes“. Dieser ist bekanntlich die Grundlage des Lernvermögens von lebenden Wesen.

Schon in der allerersten Nummer der Zeitschrift berichtete der Mathematiker Theo Lutz „Über ein Programm zur Erzeugung stochastisch-logistischer Texte“. Dabei handelte es sich um eine Software, die auf einem Computer der Firma SEL Gedichte über Mathematik produzierte. Leider verzichtete Lutz auf ein Beispiel, doch dürften sie ähnlich geklungen haben wie die poetischen Texte, die er als Student auf der Zuse Z22 der TH Stuttgart erstellt hatte.

In der Kybernetik war die „Programmierung des Schönen“, um ein Buch von 1960 zu zitieren, ein großes Thema, und die damaligen Elektronengehirne schufen neben Gedichte auch Bilder. Das Dezember-Heft 1964 der „Grundlagenstudien“ enthält gleich zwei Beiträge von Georg Nees, der in Erlangen Software für statistische Grafiken schrieb. Diese Figuren zeichnete – siehe oben – ein Zuse-Z64-Plotter, der an eine Siemens 2002 angeschlossen war. Nees war ein Pionier der deutschen und europäischen Computerkunst; er ist Anfang Januar im 90. Lebensjahr verstorben.

Neben aktuellen Arbeiten veröffentlichte Helmar Frank auch Texte des Physikers Hermann Schmidt, dessen „Allgemeine Regelungskunde“ ein Vorläufer der Wienerschen Kybernetik war. Außerdem brachte er manche Kuriosität, Arbeiten über die Logik der Tabu-Sprachen, den Informationsgehalt der Laute der deutschen Sprache oder über das Rhetometer, ein rhetorisches Rückkoppelungsinstrument. Und wer sonst verlieh einer wissenschaftlichen Rezension die Überschrift „Fragwürdige Bücher“?

Unser Rückblick auf die ersten sechs Jahrgänge von Franks Zeitschrift liefert nur ein unvollständiges Bild der Kybernetik, zeigt aber ein wichtiges Ziel ihrer Forscher: die Überbrückung des Grabens, der die Geisteswissenschaften, die Kunst und die Poesie von der Technik, der Mathematik und den Naturwissenschaften trennt. Einige Jahre lang glaubten sie an eine Welt jenseits der zwei Kulturen, die der Engländer C. P. Snow in seinem Essay von 1959 beschrieb. Der Traum erfüllte sich dann nicht, aber lesenswert sind ihre Ideen allemal, und die „Grundlagenstudien“ erscheinen immer noch.

Helmar Frank wirkte von 1972 bis zu seinem Tod in Paderborn; schon vorher arbeitete er im Gebiet der kybernetischen Pädagogik mit Heinz Nixdorf zusammen. Darauf werden wir in einem späteren Blogbeitrag eingehen.

 

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