Im Zeichen des Lamas
Geschrieben am 21.04.2017 von HNF
In den 1990er-Jahren verbreitete sich über die Welt eine in Deutschland erfundene Software – MP3. Sie verkleinerte Musik-Dateien auf ein Zehntel, ohne die Qualität der Aufnahme stark zu beeinträchtigen. Vor zwanzig Jahren, am 21. April 1997, stellte der junge Amerikaner Justin Frankel das Programm WinAMP vor, das mit MP3 codierte Musik perfekt auf Windows-Computern wiedergab.
Sedona hat 10.000 Einwohner und liegt im US-Bundesstaats Arizona, dort wo der Westen noch wild ist. Einst lebten hier Apachen, weiße Männer und Frauen kamen erst 1876. Die grandiose Bergkulisse lockte Filmemacher an – der Western „Johnny Guitar“ entstand in Sedona – sowie Künstler. Im Umland wohnten jahrelang der deutsche Maler und Bildhauer Max Ernst und seine Frau Dorothea Tanning, die ebenfalls künstlerisch aktiv war.
1978 wurde in Sedona Justin Frankel geboren. Der Vater war und ist Rechtsanwalt. Justin zeigte früh ein Talent zum Basteln. Von alten Radios und Modellflugzeugen wechselte er bald zur Elektronik. In der High School betreute er das Computernetz und schrieb unter anderem ein E-Mail-Programm. 1996 begann er ein Studium an der Universität von Utah, die eine exzellente Informatik-Abteilung besitzt. Nach einem halben Jahr kehrte er aber nach Sedona zurück und startete ein eigenes Projekt. Es hatte mit MP3 zu tun.
MP3 ist die Abkürzung einer Abkürzung, und zwar von MPEG-1 Audio Layer III oder MPEG-2 Audio Layer III. MPEG steht für die Moving Picture Experts Group, frei übersetzt Fachgremium für Videos, und der Audio Layer für den Audio-Bereich. Lange Rede, kurzer Sinn: MP3 ist ein technisches Verfahren, das akustische Daten komprimiert. Das Ergebnis der Kompression belegt nur noch ein Zehntel des Platzes, den die Ausgangsdatei füllte, klingt aber weitgehend wie das Original. Bei höherer Kompressionsrate verschlechtert sich natürlich die Qualität.
MP3 stammt, wie man weiß, aus Deutschland. Hauptentwickler war eine Arbeitsgruppe im Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen, die der Ingenieur Karlheinz Brandenburg leitete. Im Blog schilderten wir bereits einen Besuch in Erlangen im Jahr 1996. Damals war MP3 nach einem komplizierten bürokratischen Prozess zu einem Weltstandard geworden. Es umfasste einen Algorithmus, der normale Audiodaten komprimiert, und zweitens eine Methode, um komprimierte Daten hörbar zu machen.
1994 veröffentlichte das Fraunhofer-Institut ein Programm L3enc, das die Kompression erledigte. Für geringe Raten war es mehr oder weniger kostenlos; für die volle Leistung zahlte man 350 DM. Schon 1993 soll ein holländischer Hacker eine frühe Form des Programms vom Server des Instituts heruntergeladen und verteilt haben. Nach einer anderen Theorie kaufte 1994 ein australischer Computerpirat eine L3enc-Kopie mit einer gefälschten Kreditkarte. Anschließend gab er es unter dem neuen Titel „Thank you Fraunhofer“ weiter.
Karlheinz Brandenburg und sein Team brachten neben L3en auch die Software L3dec heraus, die mit L3enc komprimierte Dateien decodierte. 1995 folgte WinPlay3: dieses Programm spielte MP3-Musik auf Computern mit Betriebssystem Windows direkt ab, eine Soundkarte vorausgesetzt. WinPlay3 besorgte nur die Wiedergabe und besaß sonst keinerlei Funktionen. Es führte aber dazu, dass immer mehr Computernerds MP3-Dateien anhörten, herunterluden und in Umlauf brachten. Es bildete sich eine MP3-Gemeinde heraus.
1996 hörte Justin Frankel zum ersten Mal ein mit MP3 komprimierte Musikstück. Er fand außerdem im Internet einen zweiten MP3-Decoder. Er hieß AMP, entwickelt hatte ihn der kroatische Student Tomislav Uzelac. Diese Software überarbeitete Frankel, sodass sie unter dem Betriebssystem Windows lief. Hilfe kam von einem ehemaligen Mitstudenten, Dmitry Boldyrev. Frankel taufte das Programm WinAMP und setzte es am 21. April 1997 ins Netz. Die allererste Version WinAMP 0.2a war noch eine Freeware, also gratis.
Die übernächste Version vom 7. Juni 1997 schrieb sich dann Winamp 1.006. Im Januar 1998 gründete Frankel in Sedona die Firma Nullsoft, eine kleine Verbeugung vor Microsoft. Sie vermarktete Winamp professionell, eine Kopie kostete 10 Dollar. Das Logo der Firma enthielt ein Lama, das angeblich auf den Namen Mike hörte. Beim Starten der Software erklang ein Spruch über das südamerikanische Haustier, den wir lieber nicht übersetzen. Das Menü des Programms wies aber kein Lama, sondern einen zuckenden Blitz auf.
Schon 1997 hatte Justin Frankel von Tomislav Uzelac eine Lizenz für die Nutzung seiner Software AMP erworben und wähnte sich juristisch auf der sicheren Seite. Uzelac schloss sich jedoch dem Unternehmen PlayMedia an, das Nullsoft prompt verklagte. Man einigte sich schließlich außergerichtlich. Der Rechtsstreit beeinträchtigte nicht den Erfolg von Winamp. Bis Ende 1997 wurde das Programm drei Millionen Mal heruntergeladen. Im Jahr 2000 – inzwischen lag Winamp 2.10 vor – hatten sich 25 Millionen User registriert.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich Nullsoft schon im Besitz von America Online alias AOL. Der Medienkonzern erwarb die Firma 1999, und die Belegschaft zog nach San Francisco um. Hier machte sich Justin Frankel aber bald unbeliebt. So entwickelte er das Filesharing-Netzwerk Gnutella, eine MP3-Suchmaschine und einen Adblocker, der ausgerechnet einen AOL-Dienst von Reklame befreite. Im Dezember 2003 wurde Nullsoft dichtgemacht. Im Januar 2004 musste sich Frankel einen neuen Job suchen.
AOL entwickelte die MP3-Software unter eigener Regie weiter und hatte sie bis Ende 2013 im Programm. Seit Anfang 2014 bietet sie das belgische Internet-Radio Radionomy an. Das Lama gibt es auch noch. Karlheinz Brandenburg ist Professor an der TU Ilmenau und leitet außerdem das Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie. Justin Frankel betreibt eine Firma für Audio-Software. Daneben produziert er, wie seine Instagram-Seite zeigt, Musik und Kunst. Er kommt eben aus Sedona.