Mathematik aus Manhattan

Geschrieben am 29.03.2018 von

Die Rechentafel ist das älteste mathematische Hilfsmittel des Menschen. Schon die Babylonier nutzten im 2. Jahrtausend vor Christus Listen mit Quadratzahlen. Seit dem 16. Jahrhundert wurden Logarithmentafeln produziert. 1938 begann in New York eine staatliche Hilfsmaßnahme für Arbeitslose. Frauen und Männer erstellten Zahlentabellen von Hand oder mit Rechenmaschinen. Das „Mathematical Tables Project“ lief bis 1949.

1929 bescherte ein Börsenkrach an der Wall Street der Welt eine lange Wirtschaftskrise. In den 1930er-Jahren lag in den USA die Arbeitslosenrate zwischen 15 und 20 Prozent. Anfang 1938 waren zwölf Millionen Amerikaner ohne Job. Als eine Gegenmaßnahme wurde 1935 die staatliche Behörde WPA geschaffen. Die Works Progress Administration organisierte Beschäftigungsprogramme, etwa durch den Bau von Straßen, Schulen, Theatern, Parks und Sportstätten. Sie förderte aber auch kulturelle Aktivitäten und Wissenschaftsprojekte.

Am 1. Februar 1938 startete ein solches in einem Wolkenkratzer in Manhattan. Das Ziel des „Mathematical Tables Projects“ war die Produktion von Rechentafeln aller Art. Dazu gehörten Tabellen von Potenzen und Logarithmen und ebenso von Exponential- und trigonometrischen Funktionen und von Integralen. Das Projekt wurde von der WPA finanziert und unterstand formell dem Eichamt, dem National Bureau of Standards. Projektdirektor war Arnold Lowan. 1898 in Rumänien geboren, lebte er seit 1924 in den Vereinigten Staaten.

Lowan war Ingenieur, hatte aber nach der Einwanderung Physik studiert und den Doktor gemacht. In den Dreißigern lehrte er Mathematik und Physik in zwei Colleges in New York; von dort gelang ihm der Sprung ins Rechentafelprojekt. Seine rechte Hand war die ein Jahr ältere Gertrude Blanch. Sie war als Kind aus Polen emigriert und hatte zunächst im Büro gearbeitet. Ab 1928 studierte sie und promovierte 1935 in Mathematik. Sie fand eine Stelle in einer Kamerafirma in New York; außerdem belegte sie einen Kurs bei Arnold Lowan. 1938 lud er sie in sein Projekt ein.

Im Frühjahr 1938 arbeiteten darin 125 Rechner und Rechnerinnen. Sie waren keine Fachleute, sondern ein Querschnitt durch den Schmelztiegel New York, darunter viele Afroamerikaner und Menschen jüdischer Religion. Sechs Mathematiker legten die Rechenpläne fest, zwei weitere Teams prüften die Ergebnisse und lösten Spezialaufgaben. Ihre Mitglieder durften die drei Rechenmaschinen benutzen, die bei Projektbeginn zur Verfügung standen. Die meiste Arbeit wurde in einem großen Saal von Hand erledigt, 32 Stunden jede Woche.

Plakat der WPA für den Bundesstaat Ohio; angesprochen werden Arbeitslose mit mathematischen Kenntnissen.

Gertrude Blanch schuf vier Gruppen für Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division; die Männer und Frauen der letzten Gruppen bildeten die Elite des Projekts. Plakate an den Wänden erläuterten den Umgang mit positiven und negativen Zahlen. Im April 1938 lag die erste Rechentafel vor, die ersten zehn Potenzen der ganzen Zahlen von 1 bis 1.000. Sie füllten 80 Seiten. Mehr als 500 Seiten umfasste die zweite Publikation, die im Juni 1938 fertig war. Sie enthielt Werte der Exponentialfunktion mit 15 oder 18 Stellen hinterm Komma.

Eine ganz besondere Arbeit reservierte Gertrude Blanch für sich selbst. Für den deutsch-amerikanischen Physiker Hans Bethe berechnete sie die wahrscheinliche Verteilung von Temperatur und Dichte im Inneren der Sonne. Bethe gab dazu die nötigen Formeln an, er scheute aber die Rechenarbeit. Gertrude Blanchs Resultate erschienen 1941 in einer wissenschaftlichen Zeitschrift. 1967 gewann Hans Bethe für seine Sonnenforschung, die natürlich noch etwas umfangreicher war, den Nobelpreis.

Im Juni 1940 hatte das Rechentafelprojekt eine dreihundertköpfige Belegschaft. Die eine Hälfte mühte sich mit Bleistift und Papier, die andere Hälfte plagte sich mit gebrauchten Sundstrand-Addiermaschinen ab. Erst als 1941 ein Auftrag der amerikanischen Armee hereinkam, konnte Arnold Lowan elektrische Addierer kaufen und IBM-Lochkartentechnik anmieten. Nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 übernahm das Projekt Aufträge von der Marine, zum Beispiel Berechnungen für das neue Funknavigationssystem LORAN.

Ende 1942 verkündete US-Präsident Roosevelt das Ende der Arbeitsbeschaffungsbehörde WPA; 1943 wurde sie geschlossen. Das Mathematik-Projekt machte in reduzierter Form weiter. Fünfzig Rechen- und zehn Schreibkräfte wurden von der Marine übernommen und in ein Hochhaus am New Yorker Hafen verlegt: Es ist im Eingangsbild zu sehen. Das übrige Personal, darunter Gertrude Blanch und Arnold Lowan, arbeiteten im Dienst des Eichamts an staatlichen und militärischen Aufträgen. 1945 finanzierte die Navy auch diesen Teil.

Sundstrand-Addiermaschine mit Zehnertastatur  (Foto Daderot)

Nach Kriegsende erfuhren die Projektmitarbeiter von der Existenz ihrer deutschen Kollegen. Der Mathematiker Alwin Walther hatte für die Entwicklung der A4-Rakete zwei Teams von Rechnerinnen aufgestellt, sie arbeiteten in der Technischen Hochschule Darmstadt sowie in Peenemünde. 1944 erfolgte die Gründung eines Reichsinstituts für Mathematik; daraus wurde das Mathematische Forschungsinstitut Oberwolfach. Schon seit 1874 operierte ein astronomisches Recheninstitut in Berlin, heute ist es Teil des Zentrums für Astronomie der Universität Heidelberg.

Auch in den USA führte der 2. Weltkrieg zu zahlreichen akademischen und staatlichen Rechenbüros. Nach 1945 schrumpfte ihre Zahl, und 1947 rückte das Ende der New Yorker Gruppe näher. Die Lochkartentechnik und ein Teil des Rechenpersonals zogen in den Hauptsitz des Eichamts nach Washington. Arnold Lowan behielt eine kleine Abteilung in New York. Sie schloss am 30. September 1949 endgültig. Damit endete die Geschichte des vermutlich größten Rechenunternehmens des 20. Jahrhunderts.

Arnold Lowan kehrte in die Hochschule zurück; er starb 1962. Gertrude Blanch arbeitete ab 1948 für die Universität von Kalifornien und für die Computerfirma ElectroData in Pasadena. In den Fünfzigern wechselte sie zur Air Force nach Dayton im US-Bundesstaat Ohio. Hier war sie bis 1967 als Mathematikerin tätig. Sie starb 1996 kurz vor ihrem 99. Geburtstag. Ihr Erbe sind die 38 Rechentafeln, die das gleichnamige Projekt unter ihrer Anleitung veröffentlichte. Sie erinnern an die Zeit, als ein Rechner noch keine Maschine, sondern ein Mensch war.

Mindestens zwei Tafeln und viele weitere anderer Herkunft sind inzwischen online – bitte auf dieser Seite zu „1939“ und „1941“ scrollen. Auf dem Rechentafelprojekt basiert auch das wichtige Handbook of Mathematical Functions von 1964. Zum Abschluss wünschen wir unseren Lesern alles Gute für die Ostertage und melden uns nach diesen zurück.

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3 Kommentare auf “Mathematik aus Manhattan”

  1. Simone Guski sagt:

    Ein höchst interessanter Artikel weit über die Technikgeschichte hinaus! Wie unterschiedlich doch eine Gesellschaft mit Mathematik und den Mathematikern umgehen kann..

  2. Vor wenigen Tagen, am 4.4.2018, wurde der seinerzeitige Mitarbeiter von Alwin Walther in Darmstadt, Dr. Wilfried de Beauclair, 106 Jahre alt. Er ist damit der bei weitem älteste Computerpionier der Welt. Wie de Beauclair im Jahre 2015 noch einmal im Zusammenhang mit der Ada-Ausstellung des HNF berichtete, waren die technischen Berechnungen am Darmstädter „Institut für praktische Mathematik“ (IPM) für das deutsche Raketenprogramm an der Heeresversuchsanstalt Peenemünde der erste große Einsatz weiblicher Hilfskräfte als „Computer“ (Rechnerinnen) vor und im Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Bis zu 50 Rechenmaschinen, z.B. Brunsvigas von Grimme-Natalis in Braunschweig, dienten der Bearbeitung von Rechen-Schemablättern, für die möglichst Abiturientinnen mit sehr guten Abiturnoten in Mathematik dienstverpflichtet wurden.

  3. L. Humbert sagt:

    »Den Abramowitz«, den ich mir als junger Informatikstudent 1973 gekauft habe – auf Anraten von Prof. Dr. Wolfhard Haacke (Paderborn) – bei der
    Irene A. Stegun als Mitautorin genannt wird, ist Ergebnis dieser Arbeit.
    »Als Computer weiblich waren« (SZ)
    http://ddi.uni-wuppertal.de/infimall2015-2016/03-informatik-geschichte1/BUW-presentation_version.pdf#page=7

    Die »geübte technische Rechnerin« wurde noch in (Seidel 1967) als Maßeinheit verwendet.

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