Mathematik für den Supermarkt
Geschrieben am 18.10.2019 von HNF
Am 20. Oktober 1949 meldeten die Ingenieurstudenten Norman Woodland und Bernard Silver beim US-Patentamt eine Technik zum Klassifizieren an. Dabei wurden Waren mit Streifen oder Kreisen markiert; Fotozellen setzten sie an der Kasse in Daten und Preise um. 1973 entstand aus dieser Idee der Strichcode mit senkrechten Linien. Entwickelt hat das Verfahren die Firma IBM.
Es ist der 26. Juni 1974; wir sind im Marsh-Supermarkt der Stadt Troy im US-Bundesstaat Ohio. Kurz nach acht Uhr füllt Clyde Dawson, technischer Direktor der Ladenkette, seinen Einkaufskorb und geht zum Ausgang. Dort erwartet ihn die Kassiererin Sharon Buchanan. Sie nimmt die Waren und führt sie über den Laserscanner, dessen Strahl eine kleine Markierung mit schwarzen Linien trifft. Der erste Piepser ertönt bei einem Päckchen Wrigley’s Kaugummi, 67 Cent werden verbucht.
So begann eine neue Ära der Wirtschaftsgeschichte, die des Strichcodes. Seine Ursprünge gehen bis ins Jahr 1948 zurück. Damals verbreiteten sich über die USA die Supermärkte; sie brachten Selbstbedienung, lange Regale, Kühltruhen und ebenso lange Schlangen an den Kassen. Ein Supermarkt-Manager beklagte sich darüber bei einem Professor der Drexel-Hochschule von Philadelphia. Könnte man nicht eine automatische Abrechnung erfinden? Der Ingenieurstudent Bernard Silver hörte das Gespräch mit und erzählte anschließend seinem Freund Norman Joseph Woodland davon.
Woodland wurde 1921 in Atlantic City geboren; während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er im US-Atomprogramm in Oak Ridge. 1947 machte er seinen Bachelor in Maschinenbau an obiger Hochschule, danach unterrichtete er dort. Die Geschichte mit der automatischen Abrechnung ließ ihn nicht ruhen. Die Suche nach einer Lösung führte ihn zuerst zu Punkten, die unter UV-Licht leuchten. Joe Woodland und Bernard Silver bauten ein Modell; dadurch sahen sie, dass die Technik für die Praxis zu teuer würde.
Am Jahresende verkaufte Woodland einige Aktien, die er besaß, kündigte den Lehrauftrag und trat eine lange Denkpause in Florida an. Am Strand kam ihm eine Idee. Er dachte an Morsezeichen und drehte die waagrechten Striche in die Senkrechte. Beispiel: Aus – – . – wurde II.I . Im nächsten Schritt verschwanden die Punkte; entscheidend war die Position der Striche auf einer Unterlage. Die Gruppen interpretierte er nun als Dualzahlen: Ein Strich war eine 1, eine Stelle ohne Strich eine 0. Aus II I wurde 1101 oder dezimal 13.
Die beiden Erfinder ergänzten die Codierung noch um ein Lesegerät mit Fotozellen. Am 20. Oktober 1949 meldeten sie ein Patent Klassifizierapparat und –methode an. Am 7. Oktober 1952 wurde es mit Nummer 2.612.994 gewährt. Die Zeichnung macht deutlich, dass es eine Folge von Strichen wie auch ein Bündel konzentrischer Kreise betrifft. Bereits 1951 erhielt Joe Woodland eine Stelle bei IBM. Big Blue hatte jedoch kein Interesse an einer Umsetzung seines Patents. 1962 verkaufte er es für 15.000 Dollar an eine andere Firma.
Diese verkaufte es dann weiter an den RCA-Konzern. Kurz vor Auslaufen des Patentschutzes, im Jahr 1967, startete RCA einen Feldversuch. Angestellte eines Supermarkts in Cincinnati klebten dabei Strichcode-Kreise auf die Waren. Das Experiment war kein großer Erfolg, machte aber die Idee des Codes landesweit bekannt. 1970 wurde der Verband der amerikanischen Ladenketten aktiv, und die Beratungsfirma McKinsey legte ein Datenformat fest. Den Wettbewerb um die technische Realisierung gewann der Computerhersteller IBM.
Das IBM-Format wurde am 3. April 1973 zum Standard für den Universellen Produktcode erklärt. Projektleiter war der Ingenieur George Laurer. Der UPC knüpft an die senkrechten Striche des Woodland-Silver-Patents an, hat aber nichts mit Dualzahlen zu tun. Die Ziffern der Warennummer werden durch sieben benachbarte Linien ausgedrückt, die schwarz oder weiß sind. Linien gleicher Farbe verschmelzen zu breiteren Streifen. Das Scannen erfolgt, wie man weiß, durch einen Laser; seine Grundform wurde erst 1960 erfunden. Nach dem Test in Troy eroberte der Strichcode in regional unterschiedlichen Formen die Welt.
Natürlich bot auch die Nixdorf Computer AG Kassen für die Labels an. Sie enthielten keinen Laser, ließen sich aber mit speziellen Lesestiften verbinden. Seit 1994 gibt es auch den quadratischen QR-Code; er wurde von der japanischen Firma Denso entwickelt. 2007 wurde im russischen Sankt Petersburg, siehe Eingangsbild, das Shoppingcenter ШТРИХ-КОД oder „Schtrich Kod“ errichtet (Foto Anton Chmelev CC BY-NC-SA 2.0 seitlich beschnitten). Man kann sich denken, warum es so heißt.
Faszinierend, dass IBM da schon so früh mitmischte. Die Strichcodierung spielte in den 1960er-Jahren in der Optischen Zeichenerkennung ebenfalls eine Rolle
Als ich Mitte der 70er Jahre im Berliner Forschungszentrum der Nixdorf Computer AG arbeitete, wurden viele Kaugummipäckchen etc extra aus den USA eingeflogen, weil die schon einen Strichcode trugen. Bei Nixdorf wurde damals durchaus mit Lasertechnik experimentiert.