MCM/70 – der kleine Kanadier
Geschrieben am 18.05.2021 von HNF
Der MCM/70 von der kanadischen Micro Computer Machines Inc. gehörte zu den ersten Acht-Bit-Rechnern mit einem Mikroprozessor. Er wurde am 25. September 1973 vorgestellt und ab Sommer 1974 verkauft. Sein Entwickler war der Mathematiker Merslau Kutt. Der MCM/70 besaß ein einzeiliges Display und nahm bis zu zwei Magnetbandkassetten auf. Zur Programmierung diente die Sprache APL.
Wann genau er in den Handel kam, wissen wir nicht, es geschah wohl im Sommer 1974. Sicher ist, dass der MCM/70 einen Mikroprozessor Intel 8008 enthielt, einen Nur-Lese-Speicher für 14 Kilobyte und einen frei adressierbaren für zwei Kilobyte. Auf der Oberseite war Platz für Datenkassetten. Der MCM/70 besaß eine Tastatur und ein Plasma-Display. Es hatte nur eine Zeile, machte aber das neun Kilo schwere Gerät zum ersten kompletten Acht-Bit-Computer Nordamerikas und zum Heiligen Gral der kanadischen IT-Geschichte .
Gefertigt wurde der MCM/70 in Kingston, 240 Kilometer östlich von Toronto am Ende des Ontariosees. Der Hersteller nannte sich Micro Computer Machines Inc., was zum Kürzel MCM führte. Bis November 1972 trug die Firma den Namen Kutt Systems; die Gründung erfolgte am 28. Dezember 1971 in Toronto. Der Firmengründer und -leiter hieß Merslau Kutt, der Vorname wird in der Literatur meist auf Mers reduziert. Er hängt wohl mit dem slawischen Miroslaw zusammen.
Mers Kutt wurde 1933 in Winnipeg geboren und studierte Mathematik und Physik in Toronto. 1956 machte er den Abschluss, danach arbeitete er in einigen Unternehmen, darunter auch für IBM. Ab 1965 war er Dozent an der Universität von Kingston; 1967 schuf er außerdem die Consolidated Computer Inc. Sie saß in der kanadischen Hauptstadt Ottawa und baute Terminals zum Bedienen von Großrechnern. Kutts Key-Edit ähnelte dem amerikanischen System Datapoint 3300, es benötigte allerdings einen zusätzlichen Minicomputer.
Im Herbst 1971 wurde Mers Kutt aus dem Management seiner Firma hinausgedrängt, er begann aber sofort ein neues Projekt. Er kannte Robert Noyce, einen der Gründer des Chip-Herstellers Intel, und wusste von der Existenz eines Intel-Mikroprozessors für acht Bit lange Datensätze. Er hatte intern die Nummer 1201. Könnte man ihn nicht als Zentraleinheit eines kleinen Rechners verwenden? Kutt startete die erwähnte Firma Kutt Systems, stellte ein Team zusammen und entwickelte für jenen Prozessor den passenden Mikrocomputer.
Intel präsentierte den 1201-Chip im April 1972 der Öffentlichkeit; er wurde als Intel 8008 bezeichnet. Im November führte Mers Kutt den Eignern seiner Firma den Prototyp seines Computers vor. Ein besonderes Merkmal war, dass er Befehle der Programmiersprache APL verstand. Sie ging auf den kanadischen Mathematiker Kenneth Iverson zurück. Die Sprache ist überaus formelhaft; jede Anweisung wird sofort ausgeführt. APL-Programme werden wie die der Programmiersprache BASIC nicht kompiliert, sondern interpretiert.
Weitere Vorführungen fanden 1973 auf APL-Konferenzen in Toronto und in Kopenhagen statt. Die offizielle Vorstellung des MCM/70 genannten Rechners geschah am 25. September 1973 wiederum in Toronto; kurz darauf wurde er in New York und Boston gezeigt. Ab Mitte 1974 gelangte er an Kunden. Der Kaufpreis betrug je nach Ausstattung zwischen 3.500 und 9.800 US-Dollar. Der Arbeitsspeicher ließ sich auf vier, sechs oder acht Kilobyte erweitern; für größere Datenmengen konnte man eine oder zwei Magnetbandkassetten hinzutun.
Damit war der MCM/70 der wohl beste Mikrocomputer aus der Neuen Welt, denn erst 1975 wurde für den amerikanischen Acht-Bit-Rechner Altair 8800 die Sprache BASIC angeboten. International hatte jedoch der französische Kleincomputer Micral die Nase vorn. Seinen technischen Vorsprung in den USA und Kanada büßte der MCM/70 schnell ein, vermutlich wurden weniger als tausend Stück verkauft. Erst 1978 brachte der Hersteller ein Modell mit größerem Monitor heraus. 1983 verschwanden die Micro Computer Machines vom Markt.
Mers Kutt trennte sich schon Ende 1974 von der Firma und gründete 1976 die All Computers Inc. Sie fertigte Schaltungen, die die Leistungen von Mikroprozessoren und Speicherchips steigerten. 2004 strengte er einen Patentprozess gegen Intel an, den er aber verlor. 2006 empfing er die höchste Auszeichnung des Landes, den Order of Canada. Zu seinem MCM-Computer erschienen 2003 ein Artikel und 2011 ein Buch. Er ist ebenso oben in unserem Eingangsbild zu sehen, das Nash Gordon aufnahm (CC BY-SA 4.0 seitlich beschnitten).