Sie haben Post!

Geschrieben am 07.11.2019 von

Im Jubiläumsjahr des Internets behandelten wir schon die Geburt des ARPANET und die Geschichte von CompuServe. Heute geht es um einen anderen Online-Dienst: AOL. Es war einst das größte Netzportal der Welt; im Jahr 2000 hatte es 35 Millionen Nutzer. Boris Becker machte für AOL Reklame, und die CDs des Unternehmens überschwemmten die westliche Welt.

William von Meister führte ein Leben, wie es wohl nur die Computergeschichte kennt. Sein Urgroßvater gründete 1863 die Firma, aus der der Chemieriese Hoechst hervorging. Der Opa brachte es zum Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat und wurde geadelt. Vater Friedrich Wilhelm wanderte aus und wurde US-Bürger; er leitete das Büro der Luftschiffbau Zeppelin GmbH in New York. 1937 sah er in Lakehurst, wie die Hindenburg bei der Landung Feuer fing und explodierte. Er wechselte danach in die Chemiebranche.

Sein Sohn kam am 21. Februar 1942 zur Welt. William von Meister wuchs in einem Landhaus fünfzig Kilometer westlich von New York auf. Umsorgt von Butlern und Nannies lernte er früh lesen, schreiben und radiobasteln. Er absolvierte Internate in Massachusetts und in der Schweiz, widmete sich dem Autorennsport und studierte schließlich Betriebswirtschaft. Nach dem Abschluss stürzte er sich in die Praxis, und während er ein Projekt auf den Weg brachte, begann er das nächste. Wobei er das Talent hatte, stets Geldgeber zu finden.

Nach einem Fehlstart im Alkoholhandel verdiente er gut in der Telekommunikation. Parallel zu CompuServe schuf er 1979 das Netzwerk The Source. Als Folge eines Rechtsstreits verließ er das Unternehmen mit einer Million Dollar in der Tasche. Mit diesem Geld und weiterem Risikokapital gründete er die Control Video Corporation. Sie startete 1983 den Onlinedienst GameLine; hier konnten Besitzer von Atari-Konsolen Spiele herunterladen. 1984 schloss die GameLine, 1985 wurde William von Meister aus der Firma gedrängt.

AOL-Chef Steve Case mit seiner Ehefrau Jean.

Aus der Control Video Corporation entstanden die Quantum Computer Services. Ihr Produkt Quantum Link war eine Art CompuServe für Commodore-Rechner. Das Netz wurde Anfang 1987 in den amerikanischen Computer Chronicles präsentiert: bei Minute 7:15 erklärt Marketingchef Steve Case das System und führt es auch vor. Case war erst 28 Jahre alt; er stammte aus Honolulu und wurde noch durch William von Meister eingestellt. Bei Minute 20:20 des Videos erleben wir die US-Ausgabe des französischen Minitel.

In der Folgezeit wurde der Quantum Link auf Apple- und IBM-kompatible Computer erweitert. Im Oktober 1989 trennte man sich von Apple, und das Netzwerk nahm den Namen America Online an, abgekürzt AOL. 1991 hatte es 120 Angestellte und 30.000 Abonnenten. Zugleich rückte Steve Case an die Spitze auf. Am 19. März 1992 vollzog AOL einen fulminanten Börsengang, der 62 Millionen Dollar in die Kasse spülte. So begannen die goldenen Jahre des Internet-Unternehmens.

Es etablierte sich schnell neben dem Marktführer CompuServe, überholte ihn und schluckte ihn 1998. Das Netzwerk hatte Geld wie Heu und konnte attraktive Inhalte gewinnen; es bot Zugänge zu Newsgroups und dem World Wide Web sowie Chat- und Mail-Dienste. Ab 1997 erhob es nur noch eine Flatrate von 19,95 Dollar im Monat. Damals ging in den USA die Hälfte der Internetnutzer mit den drei Buchstaben ins Netz. 1999 zählte AOL weltweit 35 Millionen Kunden; der Börsenwert betrug mehr als hundert Milliarden Dollar.

Gratis für alle! So kannte man AOL in seiner großen Zeit.

AOL überschwemmte die Erde mit CDs, die einen kostenlosen Einstieg in den Cyberspace verhießen, siehe Eingangsbild. Die Firma fasste auch bei uns Fuß; der Werbespot mit Boris Becker schrieb Reklamegeschichte. 1998 steckte AOL mehrere Millionen in die Filmkomödie You’ve Got Mail mit Tom Hanks und Meg Ryan. Der Titel entsprach der Ansage, mit der das AOL-Programm elektronische Post meldet. Die deutsche AOL-Stimme verkündet „Sie haben Post“, die deutsche Fassung des Films hieß aber e-m@il für Dich.

Am 11. Januar 2001 verschmolz AOL mit dem Medienkonzern Time Warner zu AOL Time Warner. Auf die Elefantenhochzeit folgten das Ende des Dotcom-Booms und der Abschwung; von 2001 bis 2009 sank die Nutzerzahl in den USA von 27 auf sechs Millionen. 2009 stieg AOL aus dem Verbund aus. 2015 wurde die Firma – sie schrieb sich inzwischen „Aol.“ – von Verizon übernommen, einem Abkömmling der alten Bell-Telefongesellschaft. Den deutschen Zweig führt die Verizon Media EMEA Limited mit Sitz in Irland.

William von Meister kam nach seiner Trennung von der Control Video Corporation auf keinen grünen Zweig mehr. Er erlag 1995 einer tückischen Krankheit.  Steve Case trat Anfang 2003 von seinem Posten bei AOL Time Warner zurück. Er leitete dort den Aufsichtsrat, dem er dann noch drei Jahre angehörte. Seit 2005 betreibt er eine Gesellschaft für Risikokapital. Eine Initiative, eine Million AOL-CDs zu sammeln, endete 2007 bei 410.176 Stück. Denn das Netzwerk hatte endlich beschlossen, keine Silberscheiben mehr zu verteilen.

Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir stellen diese Frage, um Menschen von Robotern zu unterscheiden.