Software für den Sozialismus
Geschrieben am 04.09.2018 von HNF
Von November 1971 bis September 1973 arbeiteten Experten in England und Chile an einem Datennetz für den südamerikanischen Staat. Es sollte Industriebetriebe lenken, die der sozialistische Präsident Salvador Allende verstaatlicht hatte. Das Projekt basierte auf Ideen des Kybernetikers Stafford Beer. Es blieb letztlich unvollendet, seine Fernschreiber leisteten aber nützliche Dienste bei einem Streik der Lastwagenfahrer.
2018 feiert die Wissenschaft der Kybernetik ihren 70. Geburtstag. In unserem Blog kam sie schon vor, denn sie ist eine nahe Verwandte der Informatik. Allerdings wurzelt sie nicht in der Rechen-, sondern in der Regelungstechnik. Heute betrachten wir die Beziehung der Kybernetik zu Politik und Wirtschaft, speziell der eines südamerikanischen Landes. Doch ehe wir dieses aufsuchen, geht es nach England.
Anthony Stafford Beer – den ersten Vornamen benutzte er als Erwachsener nicht mehr – wurde 1926 in London geboren. Der Vater war Statistiker beim Schiffsregister Lloyd’s. Von 1944 bis 1949 diente Beer in der Armee, zunächst als Soldat und später als Psychologe im Kriegsministerium. Anschließend arbeitete er in der Stahlbranche im Feld des Operational Research. So hieß es in Großbritannien, in den USA und auch bei uns sagte man meist Operations Research. Ein brauchbarer deutscher Ausdruck wäre Planungsrechnung.
Von der Industriemathematik gelangte Stafford Beer zur Kybernetik. Sein Wissen von Psychologie und Biologie verknüpfte er mit Erfahrungen aus der Betriebsführung; das Resultat war das Buch „Kybernetik und Management“ von 1959. 1961 gründete er ein Beratungsbüro für Operations Research; es entstanden zwei weitere Bücher und Artikel für Zeitschriften. Von 1966 bis 1970 war Beer für ein großes Verlagshaus tätig, danach kehrte er in die Selbstständigkeit zurück. Am 13. Juli 1971 erhielt er einen Brief aus Santiago de Chile.
Absender war der Ingenieur Fernando Flores, technischer Direktor der Agentur CORFO. Die Corporación de Fomento de la Producción de Chile unterstand dem Wirtschaftsministerium und spielte eine Schlüsselrolle bei den umfangreichen Verstaatlichungen, die ab 1970 im Lande stattfanden. Seit dem 3. November 1970 amtierte der Sozialist Salvador Allende als Staatspräsident. Zu seinem Programm gehörten die Nationalisierung von Bodenschätzen und die Überführung von privaten Unternehmen in öffentlichen Besitz.
Fernando Flores kannte die Bücher von Stafford Beer gut. In seinem Brief bat er ihn um Ratschläge, wie man die verstaatlichten Unternehmen kybernetisch organisieren könnte. Beer bot sofort seine Hilfe an, im August trafen sich die beiden in London. Anfang November flog Beer nach Chile und legte zusammen mit Flores das Projekt Cybersyn fest. Er stellte es auch Präsident Allende höchstpersönlich vor. Das Wort umfasste Kybernetik und Synergie, der chilenische Name war Proyecto Synco.
Cybersyn war ein Joint Venture mit einer Gruppe in Chile und einem englischen Team. Das Fernschreibnetz Cybernet verband rund 50 verstaatlichte Firmen und andere Organisationen mit einem Computer in Santiago. Das Programmpaket Cyberstride – „stride“ ist der Schritt – regelte den Informationsfluss zwischen den Netzknoten, die Software Checo simulierte die künftige Wirtschaftsentwicklung. Schließlich gab es, entworfen vom deutschen Designer Gui Bonsiepe, den Kommandoraum. Er ist oben im Eingangsbild zu sehen (Foto Gui Bonsiepe).
Der Zweck des Systems war die möglichst schnelle und direkte Steuerung von wichtigen Bereichen der Wirtschaft. Fabriken und Bergwerke draußen im Lande sollten jeden Tag ihre Kennzahlen an die Cybersyn-Zentrale schicken. Dort ermittelte der Computer Rückstände oder Überschüsse und schlug Korrekturen vor. Tiefer gehende Entscheidungen wurden von den Experten im „Opsroom“ gefällt. Zu Beginn hatten die Cybersyn-Planer Zugriff auf einen Großrechner des Typs IBM 360/50, später benutzte man eine Burroughs 3500.
Das erste Cyberstride-Programm lief am 21. März 1972, am 1. Dezember weihte Präsident Allende den Prototyp des Kontrollraums ein. Richtig fertig wurde nur das Cybernet; seine Fernschreiber lieferten tägliche Berichte über den Zustand der Wirtschaft. Mit dem Netz überstand die Regierung auch den großen Streik der Lastwagenfahrer im Oktober 1972. Eine schnell eingerichtete Zentrale in Santiago de Chile hielt Kontakt zu rund 200 Truckern, die sich nicht den Protesten angeschlossen hatten. So wurde die Versorgung sichergestellt.
Nach dem Streik erhielt Fernando Flores den Posten des Wirtschaftsministers. Anfang 1973 machte das Cybersyn-Team das Projekt öffentlich bekannt. Ein Vortrag von Stafford Beer und ein Artikel des Magazins New Scientist sind online. Im Herbst sollte der futuristische Kommandoraum in den Präsidentenpalast von Santiago einziehen. Dazu kam es nicht mehr. Am 11. September 1973 übernahmen die Militärs die Macht in Chile. Salvador Allende starb am gleichen Tag. Fernando Flores wurde drei Jahre lang inhaftiert.
Der Militärputsch war das Ende von Cybersyn; der „Opsroom“ ist nur auf Fotos erhalten. In jüngster Zeit entstanden neue Publikationen zum Projekt wie das Buch von Eden Medina oder die Magisterarbeit von Sebastian Vehlken. Den digitalen Nachlass von Stafford Beer – er starb 2002 – verwahrt die Technische Universität von Liverpool; hier sind die Dokumente zu Chile. Am Schluss bedanken wir uns herzlich bei Gui Bonsiepe für die Fotos und die Erlaubnis, sie in unserem Blog nutzen zu können.