Vor siebzig Jahren: Die mobilen Roboter kommen
Geschrieben am 26.11.2019 von HNF
Im November 1949 erfuhr England von einem Roboterpärchen. Elmer und Elsie rollten, angetrieben durch Elektromotoren, durch das Haus des Neurologen Grey Walter in Bristol. Sie agierten selbstständig, suchten Lichter und luden ihre Batterie auf, wenn der Strom schwächer wurde. Die Roboter waren Stars in der jungen Wissenschaft der Kybernetik; Nachbauten entstanden im In- und Ausland.
Heute vor 125 Jahren, am 26. November 1894, wurde der Mathematiker Norbert Wiener geboren. Er erfand die Wissenschaft der Kybernetik, sie kombinierte Regelungstechnik und Biologie. Sein berühmtes Buch dazu erschien 1948. Im nachfolgenden Jahr baute Wiener im Massachusetts Institute of Technology die Motte, ein kleines Dreirad mit Elektromotor, zwei Fotozellen und einer elektrischen Schaltung. Wenn man es losfahren ließ, simulierte es Störungen des menschlichen Nervensystems.
Die Motte zählt zu den frühen kybernetischen Automaten. Als sie zur Welt kam, liefen in der englischen Stadt Bristol schon zwei. Im Herbst 1949 wurden sie in der Presse vorgestellt; die „Daily Mail“ berichtete am 17. November. Ihr Schöpfer war Grey Walter. Geboren 1910, studierte er Medizin in Cambridge; ab 1935 widmete er sich in Hospitälern in London und Bristol der Hirnforschung. Besonders interessierten ihn die Hirnströme. Die Technik der Elektroenzephalografie lernte er beim Erfinder, dem deutschen Neurologen Hans Berger.
Im Zweiten Weltkrieg befasste sich Grey Walter mit Radar und Elektronik. Danach verband er seine technischen Fähigkeiten mit seinem neurologischen Wissen. Das Resultat wuchs ab 1948 heran und hieß Elmer – Elektromechanischer Roboter. Elmer war 35 cm lang, 26 cm breit und ebenso hoch. Er rollte auf drei Rädern. Ein Elektromotor trieb die Hinterachse an, ein zweiter Motor lenkte das Vorderrad. Das Drehgestell war mit einer Fotozelle verbunden, die aus der Verkleidung ragte. Im Inneren befand sich ein Schaltkreis mit zwei Röhren.
Auf seinen Ausflügen fuhr der Roboter um Hindernisse herum und strebte der nächsten Lampe zu. Ganz erreichte er sie nicht; wenn das Licht für die Fotozelle zu stark wurde, trat er den Rückzug an. 1949 erhielt Elmer die Gefährtin Elsie. Sie war etwas schlauer und fand selbstständig zur Garage zurück, wenn die Leistung der Batterie nachließ. Danach konnte sie diese aufladen. Beide Automaten ordnete Grey Walter analog zur Naturkunde einer neuen Kategorie machina speculatrix zu. Meistens nannte er sie aber Schildkröten.
Im November 1949 standen Grey Walter und seine Geschöpfe in der Zeitung, im Februar 1950 strahlte die BBC einen kurzen Film aus. Elmer ist der dunkle und Elsie der helle Roboter. Ein Vierteljahr später veröffentlichte Walter einen Artikel in der Zeitschrift Scientific American. Wir erfahren unter anderem, dass die Schildkröten anfänglich eine Glühbirne trugen. Sie leuchtete auf, wenn der Motor zum Steuern des Vorderrads stoppte. Das führte zu kuriosen Verhaltensweisen, etwa Flackern und Zittern, falls ein Roboter vor einen Spiegel rollte.
1951 konstruierte Grey Walter die machina docilis Cora. Die gelehrige Maschine trat in der Wochenschau auf; der Sprecher nannte sie fälschlich Toby. Äußerlich sah Cora wie Elmer und Elsie aus, im Inneren steckten ein komplexer Schaltkreis und ein Mikrofon. Sie war der erste Roboter der Welt, der lernen konnte. Das geschah zum Beispiel so, dass Walter beim Aufleuchten einer Lampe eine Pfeife blies. Nach zehn- bis zwanzig Wiederholungen benötigte Cora den Lichtreiz nicht mehr. Sie rollte schon los, wenn die Pfeife erscholl.
Im gleichen Jahr entstanden sechs Kopien von Elsie, darunter solche mit einer Verkleidung aus durchsichtigem Kunststoff. Das Sextett wurde auf dem Festival of Britain ausgestellt und vorgeführt. Zwei Kunststoff-Modelle fanden den Weg in Museen. Unser Eingangsbild oben zeigt die Schildkröte aus dem Londoner Science Museum (Foto Science Museum Group CC BY-NC-SA 4.0 seitlich beschnitten). Elmer, Elsie und Cora sind verschollen, eine stationäre Ausführung der machina docilis blieb aber erhalten.
Seine Automaten machten Grey Walter zum bekanntesten englischen Kybernetiker neben Ross Ashby. Er war Mitglied des Ratio Club, einem Forscherzirkel, dem auch Alan Turing angehörte. In den 1950er-Jahren wirkte er in der Fernsehsendung The Brains Trust mit; bitte auf Minute 0:45 warten. 1970 erlitt er bei einem Unfall mit dem Moped Kopfverletzungen, von denen er sich nie richtig erholte. Hier sehen wir ihn 1972 im Dokumentarfilm Future Shock. 1977 starb Grey Walter nach einem Herzanfall.
Seine Geschöpfe inspirierten ab 1950 Wissenschaftler in aller Welt. Kybernetische Wesen entstanden in den USA, Frankreich, Holland, Österreich, Ungarn, in der DDR und in West-Berlin. Dort baute der Psychologe Otto Walter Haseloff 1962 das lernfähige Zwillingspaar Hinz und Kunz. Die beiden befinden sich heute im Deutschen Museum. Noch 1980 druckte die Technikzeitschrift Elektor eine Bauanleitungen für elektronische Schildkröten. Moderne Nachfahren sind die Braitenberg-Vehikel.
Seit 1961 ist Grey Walters Buch „Das lebende Gehirn“ bei uns erhältlich, das auch die Automaten schildert. Man findet es in Online-Antiquariaten. Das Werk brachte Künstler zum Bau von stroboskopischen Traummaschinen; mittlerweile flackern sie ebenfalls online. Kein Traum sind aber die mobilen Roboter, deren Evolution der Neurologe aus Bristol vor nunmehr siebzig Jahren anstieß.