Weihnachten aus dem Computer
Geschrieben am 07.12.2015 von HNF
Nikolaus ist vorbei und das Christfest rückt immer näher. Zeit also, Weihnachtsgedichte zu lesen und speziell solche, die mit der Hilfe eines Computers entstanden sind. 1960 schuf Theo Lutz in Stuttgart den wohl ersten Text dieser Art, und vor 50 Jahren erstellte Gerhard Stickel in Darmstadt weihnachtliche „Autopoeme“ mit der IBM 7090 des Deutschen Rechenzentrums.
Die Geschichte der computererzeugten Poesie ist lang und verwickelt und beginnt vielleicht schon im Mittelalter mit dem auf Mallorca lebenden Philosophen und Theologen Ramon Llull. Er erfand ein Gerät zur mechanischen Kombination von unterschiedlichen Worten. Seine „Ars magna“, zu Deutsch große Kunst, inspirierte noch Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. Jahrhundert.
Das erste Computerprogramm, das dichterische Texte im weitesten Sinne schuf, ist viel jünger. Es stammte vom englischen Informatiker Christopher Strachey, verfasste gefühlvolle Liebesbriefe und lief 1953 auf dem Elektronenrechner der Universität Manchester. Der Medienforscher David Link erstellte eine Neuauflage, die 2012 in der Alan-Turing-Ausstellung des HNF zu sehen war, aber auch im Internet studiert werden kann: Jeder Aufruf führt zu einem neuen schmachtenden „love letter“.
1959 schrieb der 1932 geborene Theo Lutz auf der Zuse Z22 der TH Stuttgart eine Software für „stochastische Texte“, traurig klingende Sätze, die sich zu beliebig langen Gedichten aufreihen ließen. Das Grundprinzip war das gleiche wie bei der Arbeit von Christopher Strachey: Aus einer Menge von vorher festgelegten Worten wählte das Programm mit einer Zufallsfunktion einige aus; diese setzte es in ein Satzschema, das in ähnlicher Weise abgespeichert und ausgewählt wurde.
1960 war Lutz berufstätig und hatte Zugang zu einem Computer ER 56 der Firma Standard Elektrik Lorenz. Damit produzierte er im Dezember desselben Jahres den folgenden Zufallstext:
DER SCHNEE IST KALT UND JEDER FRIEDE IST TIEF
UND KEIN CHRISTBAUM IST LEISE ODER JEDE KERZE IST WEISS
ODER EIN FRIEDE IST KALT ODER NICHT JEDE KERZE IST REIN
UND EIN ENGEL IST REIN UND JEDER FRIEDE IST STILL
ODER JEDE FRIEDE IST WEISS ODER DAS KIND IST STILL
Etwas einsilbig, aber das erste computergemachte Weihnachtsgedicht der Literaturgeschichte. DER SCHNEE IST KALT erschien in einer Jugendzeitschrift und rief unter den Lesern teilweise begeisterte Reaktionen hervor. Stilistisch erinnern das Gedicht und seine Vorläufer aus der Z22 an die damals populäre Konkrete Poesie sowie an die absurden Gedichte des Dadaismus. Theo Lutz ging 1966 zur IBM und leitete die Abteilung für Grundsatzfragen; er starb 2010 in Esslingen.
1963 eröffnete in Darmstadt das von der DFG geförderte Deutsche Rechenzentrum, das über ein futuristisches Gebäude und eine 15 Millionen DM teure IBM 7090 verfügte, fast ein Supercomputer für deutsche Verhältnisse. Ein junger Mitarbeiter war der 1937 geborene Gerhard Stickel, von Haus aus Philologe, doch mit einer Zusatzausbildung als Programmierer. Er beriet vor allem Forscher, die sich mit sprachwissenschaftlichen Problemen ans Rechenzentrum wandten.
Stickels eigenes Werk war eine Software von 1965, mit der die IBM die schönsten Computergedichte deutscher Sprache entwarf, die sogenannten Autopoeme. („Auto“ hat hier nichts mit Autos zu tun, sondern eher mit „automatisch“.) Ausdrucke wurden Anfang 1966 zusammen mit Computergrafiken im Rechenzentrum ausgestellt und vom TV-Magazin „Panorama“ bundesweit verbreitet. Es folgt ein Auszug aus einem Auto-Weihnachtspoem, wobei $ das Frage- und * das Ausrufezeichen vertritt.
O FREUDE* , KEUSCHE SCHNEEFLOCKEN JUBELN .
SIE MUSIZIEREN BEI DER WEIHNACHTSZEIT .
FROEHLICH IST DAS VOEGLEIN UND KLEIN DIE ERWARTUNG .
MELCHIOR UND SCHNEEWITTCHEN SIND SELIG UND GOLDEN .
JEDER LICHTERGLANZ BEHUETET DAS VOEGLEIN .
UND DIE REINE NACHT BESINGT DAS HERZ .
JETZT BESINGT FREUDE DIE HOCHHEILIGE FLOETE .
SIND GEIGEN GOLDIG UND KERZEN FREUDIG $ – NEIN*
ES ERSCHEINT UND GLAENZT ALLENTHALBEN UND IRGENDWO .
Gerhard Stickel schrieb noch gelehrte Aufsätze über sein Programm, machte dann aber Karriere in der Geisteswissenschaft und war von 1976 bis 2002 Chef des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Unten zeigen wir sein weihnachtliches Autopoem Nr. 1 und die zugehörige Grafik, wie sie 1965 aus dem Drucker kamen. Die Worte gingen dabei nicht aus einem Textverarbeitungsprogramm hervor, sondern mussten mühevoll in Lochkarten gestanzt werden. Knusper – knusper – knäuschen* (Wir bedanken uns bei Professor Stickel für die Erlaubnis, das Bild in unserem Blog zeigen zu dürfen.)
Liebe Mitleser.
ich erinnere der Vollständigkeit halber an den Poesieautomaten des HNF-„Haus- dichters“ Hans-Magnus Enzensberger. Ich glaube allerdings nicht, dass HME in seinem Lexikon auch Weihnachten vorgesehen hat.