Zwanzig Jahre HNF-Schachtürke

Geschrieben am 22.03.2024 von

Am 25. März 2004 absolvierte er im Auditorium des HNF das erste Spiel: der Nachbau des Schachtürken. Das Original baute 1769 der österreichische Staatsbeamte Wolfgang von Kempelen, die Kopie entstand in der Werkstatt des MuseumsForums. Beide Automaten wurden von einem Menschen im Inneren bedient. Der Paderborner Schachtürke stellt dabei die Anfänge der Künstlichen Intelligenz dar.

„Das ist er! Der Schachtürke!“ So eröffnete der Paderborner Schauspieler Heiko Grosche am Abend des 25. März 2004 eine ganz besondere Präsentation. Sie fand im vollbesetzten Auditorium des HNF statt und galt dem Nachbau einer Maschine, die einst die Gebildeten in Europa und Amerika beeindruckte. Es handelte sich um einen Trickautomaten, der zugleich den Beginn der Künstlichen Intelligenz markierte.

Wir erzählten es im Blog: 1769 führte der Staatsbeamte Wolfgang von Kempelen am Wiener Hof den Schachtürken vor. Der lebensgroße Automat beherrschte das Spiel hervorragend und schlug viele menschlichen Gegner. Später trat er auch im Ausland auf; 1826 brachte ihn der Impresario Johann Nepomuk Mälzel in die Vereinigten Staaten. Nach Mälzels Tod wurde das Geheimnis des Schachtürken zur Gewissheit. Wie schon von Beobachtern vermutet, saß in ihm ein schachkundiger Mensch, der Arm und Hand bediente. 1854 fiel der Automat in Philadelphia einem Museumsbrand zum Opfer.

Bereits im 19. Jahrhundert entstanden eine Anzahl Schachmaschinen, die alle dem gleichen Prinzip folgten. 1989 vollendete der amerikanische Illusionsspezialist John Gaughan eine Kopie des Türken. Zur Jahrtausendwende erdachte der österreichische Kulturhistoriker Ernst Strouhal eine steuerbare Greifhand. Sie kam in die „Kempelen-Box“ der Wiener Universität für Angewandte Kunst, die auch eine Nachbildung der von Kempelenschen Sprechmaschine enthielt. 2002 initiierte dann Dr. Stefan Stein, ein Kurator des HNF, eine funktionstüchtige Neuauflage des kompletten Schachtürken.

Stein kannte die Beschreibung des Automaten, die der sächsische Adelige Joseph Freiherr zu Racknitz im Jahr 1789 veröffentlichte. 1983 erschien davon ein Reprint. Mit Hilfe dieser und anderer Schriften erstellten der Techniker und Restaurator Bernhard Fromme und sein Kollege Norbert Wischer in der HNF-Werkstatt den Nachbau. Den Kopf der Figur schuf die Requisiteurin Annette Seidel-Rohlf von den Paderborner Kammerspielen. Eine besondere Herausforderung war der Pantograph, mit dem der verborgene Spieler die Hand bewegte. Er steckte schon im Ur-Schachtürken, war jedoch eine faktische Neuentwicklung.

Der Pantograph übertrug eine geringfügige Positionsänderung in eine größere. Das untere Ende der Mechanik wurde vom Bediener über ein kleines Schachbrett geführt, das obere Ende bewegte analog den linken Arm des Automaten über das große Brett. Der Bediener musste außerem die linke Hand öffnen und schließen, um die Figuren zu setzen. Jede enthielt einen Magneten, der ein Metallplättchen auf der Unterseite des Bretts anzog. Der Mensch im HNF-Türken trug eine elektrische Stirnlampe und sah das. Er konnte somit alle Züge verfolgen und auf seinem kleinen Brett die Figuren in gleicher Weise einstecken.

Mit diesem Buch fing es an: der Bericht von Joseph Friedrich Freiherr zu Racknitz von 1789

Enthüllt wurde der Automat am 25. März 2004, am Vorabend des 200. Todestags Wolfgang von Kempelens. Im HNF-Auditorium schauten auch Nachfahren von ihm zu, die aus Ungarn angereist waren. Nach der Begrüßung durch HNF-Geschäftsführer Dr. Kurt Beiersdörfer hielt Ernst Strouhal die Festrede, danach begann die erste Schachpartie des Türken. In seinem Inneren saß Joachim Schwarzmann vom Schachklub Blauer Springer Paderborn 1926 e.V., der menschliche Gegner war Michael Barz, der erste Vorsitzende des Vereins. Das Spiel dauerte siebzehneinhalb Minuten und endete mit Remis durch Dauerschach.

Das Medienecho der Veranstaltung war gewaltig. Artikel erschienen in regionalen und in überregionalen Blättern wie im SPIEGEL. Neben dem heimatlichen WDR berichteten TV-Sender aus England, der Türkei und China. Der HNF-Nachbau brachte es ebenso in den Cyberneticzoo – bitte etwas scrollen. Das Foto im Text zeigt den Arm des Pantographen auf dem kleinen Schachbrett des Bedieners. Die Maschine besichtigte auch der Schriftsteller Robert Löhr, der den historischen Roman Der Schachautomat verfasste. Darin lenkt allerdings ein Kleinwüchsiger den Greifarm.

Nach der Präsentation fand der Schachtürke einen Platz in der HNF-Abteilung für frühe Automaten. Sie befindet sich im ersten Obergeschoss bei der Lochkartentechnik. In der Geschichte der Informatik begann mit Wolfgang von Kempelens Geschöpf die Künstliche Intelligenz. Es spulte keine Algorithmen ab, machte aber den Eindruck eines denkenden Mechanismus und wies in die Zukunft der EDV. Sechzig Jahre nach seinem Ende führte der Spanier Leonardo Torres y Quevedo in Paris eine funktionierende Schachmaschine vor.

Wie die Leser unseres Blogs wissen, wurde 1956 bei einer Tagung in der amerikanische Stadt Dartmouth die Artificial Intelligence geboren. Vierzig Jahre später schlug ein IBM-Rechner den weltbesten Schachspieler Garri Kasparow; 1997 unterlag er dem Computer in einem regulären Turnier in New York. Dort steht mittlerweile auch der Schachtürken-Nachbau von John Gaughan. Einen echten Spiel-Automaten aus dem 19. Jahrhundert finden wir in einem Londoner Museum: Psycho verstand sich auf das Kartenspiel Whist. Besucher des HNF können in der KI-Abteilung ein Computerprogramm bei „Vier gewinnt“ besiegen.

Es folgt nun noch eine Bilderstrecke zum Schachtürken und seinem Nachbau.

Der Schachtürke im Buch des Freiherrn zu Racknitz. Der Automat ist zu groß dargestellt, und der Bediener sitzt verkehrt herum. (Foto Digitale Sammlungen der Universitätsbibliothek der Humboldt Universität zu Berlin CC BY 4.0 DEED seitlich beschnitten)

Auch dieses Bild ist fehlerhaft: Der Türke wendet sich vom Schachbrett ab. Freiherr zu Racknitz ahnte aber die Steuerung. (Foto Digitale Sammlungen der Universitätsbibliothek der Humboldt Universität zu Berlin CC BY 4.0 DEED seitlich beschnitten)

Eine englische Karikatur aus dem Jahr 1846 – ein Politiker steuert einen anderen – erfasste den Schachtürken recht gut. Damals war zumindest in den USA sein Aufbau bekannt.

Bernhard Fromme (rechts) und Norbert Wischer 2003 in der HNF-Werkstatt: Vorne links wächst der Greifarm des Schachtürken heran.

Das Räderwerk mit Programmwalze erweckte den Eindruck einer künstlichen Intelligenz.

Hinter dem Getriebe versteckte sich der Bediener des Schachtürken, wenn vor der Partie die beiden rechten Türen des Automaten geöffnet wurden.

Der Pantograph, der den linken Arm bildete: Rechts am Schachbrett liegt die Bedienheit.

Links der funktionslose rechte Arm des Türken, rechts der linke mit der Greifhand,

Die Öffnung deckte ein Schachbrett mit Metallplättchen auf der Unterseite ab. Sie wurden durch Magnete in den Figuren angezogen: So erkannte der Bediener die Stellung des Spiels.

Die Zuschauer sahen ein scheinbar dickes Brett und wussten nichts vom Magnettrick.

Der Kopf des Schachtürken, gestaltet von Annette Seidel-Rohlf

Germany’s Next Chess Model – ein erster Entwurf für eine türkische Tracht

Game over: Kurator Dr. Stefan Stein nach der Vorführung des Schachtürken von Zuschauern umringt (Foto Jan Braun/HNF)

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