Auf den Spuren von Occultus

Geschrieben am 18.02.2022 von

1911 machte ein künstlicher Mensch von sich reden. Er hieß Occultus und wurde von dem Berliner Ingenieur Otto Widmann vorgeführt. Occultus sah nicht so aus wie die üblichen Blechroboter, er hatte das Gesicht eines Mannes und trug dazu einen dunklen Bart. 111 Jahre später fand der HNF-Blog mehr über den Automaten und seinen Besitzer heraus. 

Roboter gibt es seit 1920. Damals erschien das Drama R.U.R. von Karel Čapek, in dem die biotechnischen Wesen auftraten. Im gleichen Jahr rollte The Kaiser durch London. Der metallene Monarch war das Werk des neuseeländischen Erfinders Alban Roberts und ließ sich mit Schall- oder Lichtwellen steuern. Er galt bislang als der erste humanoide Automat, der wirklich gebaut wurde. 1928 schuf der englische Journalist William Richards mit seinem Eric den archetypischen Blechroboter. Wir stellten ihn im Blog vor.

Wie es scheint, gab es aber schon vor dem Ersten Weltkrieg einen mobilen und sprechenden Kunstmenschen. Nach Presseberichten hieß er Occultus und erschien 1909 in einem Londoner Theater. Die Zeitung The Scotsman sprach am 5. Oktober des Jahres von einem „interesting entertainment“. Die Frage nach dem Sieger eines Galopprennens beantwortete die Maschine – falls es eine war und sich in ihr keine Person verbarg – mit „Das erste Pferd am Ziel“. Viel mehr als das brachten wir leider nicht in Erfahrung.

„Die Neue Zeitung“ brachte am 27. März 1911 diesen Pressetext zu Occultus.

1911 konnte man erneut von einem Occultus lesen, in deutsch- und englischsprachigen wie in französischen, holländischen und spanischen Medien. Einen längeren Beitrag lieferte am 27. März 1911 Die Neue Zeitung aus Wien; daraus stammt unser Eingangsbild. Occultus sah aus wie ein Mann mit einem langen Bart; unter seiner Jacke steckte eine komplizierte Mechanik. Er redete, sang, pfiff und lachte, befolgte Befehle und war dialogfähig. Wie die Zeitung bemerkte, fühlte er sich auf Holz- und Steinböden ebenso wohl wie auf Teppichen.

Der Artikel aus Wien wirkt wie ein Werbetext. Dass Occultus tatsächlich vorgeführt wurde, legt eine Anzeige nahe, die am 8. Oktober 1911 im Salzburger Volksblatt stand. Die dort genannten früheren Auftritte sind aber mit Vorsicht zu genießen. Im August und September 1912 erwähnten Zeitungen einen Androiden, der auf einer Erfinderausstellung in Paris agierte: „Dis-donc sieht aus wie ein Mensch, spricht wie ein Mensch und bewegt sich wie ein Mensch, ist aber ein Automat.“ War Dis-donc, was man mit „Also sowas“ übersetzen könnte, vielleicht Occultus?

Die Anzeige des „Salzburger Volksblatts“ belegt eine Vorführung im Oktober 1911.

Doch kommen wir zu seinem Besitzer. Otto Widmann wohnte vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin-Schöneberg und war Ingenieur. Belegt ist ein amerikanisches Patent für ihn vom 18. November 1902; es betraf ein System, das auf elektrischem Wege die Positionen von Zeigern übertrug. Eine kuriose Meldung fanden wir 1908 in der SPD-Zeitung Vorwärts. Demnach erhielt das alte Berliner Aquarium, das neben Fischen auch Landtiere zeigte, von Widmann einen hellgesichtigen Schimpansen. Der Ingenieur hatte also etwas von der Welt gesehen.

In Anzeigen und Adressbüchern jener Zeit taucht Otto Widmann einige Male auf. Er betrieb in Berlin eine Illusions-Apparate-Fabrik und eine Firma für Patent-Neuheiten; sie sollte ein Flugzeug bauen. Einen faszinierenden Artikel druckte 1914 der Fort Wayne Sentinel; aus dem US-Bundesstaat Indiana. Darin schilderte Widmann – die Zeitung nannte ihn Adolph Whitman – zukünftige Roboter-Armeen, die Kriege führen oder aber friedlich arbeiten und ein Paradies für die gesamte Menschheit schaffen.

Im Sommer 1912 trat Occultus unter dem Namen Dis-donc vermutlich in Paris auf. Der Artikel ist aus den „Innsbrucker Nachrichten“ vom 5. September 1912.

Danach verliert sich seine Spur. In einer türkischen Zeitung aus den 1920er-Jahren ist das Foto eines Mannes überliefert, der ein gealterter Otto Widmann sein könnte. Der im Blatt abgebildete Polizeiroboter wurde 1924 vom Amerikaner Hugo Gernsback erfunden, dem wir die moderne Science-Fiction verdanken; das war die offensichtliche Vorlage des Grafikers. Der letzte Auftritt von Occultus geschah im Oktober 1931 bei einer Roboter-Ausstellung in New York. Somit umfasste seine Karriere ziemlich genau 22 Jahre.

Sicher ist, dass ein künstlicher Mensch namens Occultus existierte und dass er von einem deutschen Ingenieur präsentiert wurde. Einige Fragen bleiben jedoch offen, zum Beispiel die nach seinem Einstieg ins Showgeschäft. War der Londoner Occultus von 1909 schon das Geschöpf von Otto Widmann? Denkbar wäre auch, dass es sich um eine separate Erfindung handelte, die der Berliner später nachahmte. Eine andere Möglichkeit ist, dass Widmann eine englische Entwicklung aufkaufte und zwei Jahre später mit ihr auf Tournee ging.

Grafik aus Otto Widmanns US-Patent 714.081 für eine elektrische Positionsübertragung

Wie könnte Occultus funktioniert haben? Die Presse berichtete von Schallplatten, die im Inneren abgespielt wurden. Wahrscheinlich saß ein Helfer hinter den Kulissen und lenkte per Fernsteuerung den Automaten. Die nötige elektrische Übertragung beschrieb im Prinzip Otto Widmanns Patent, und ein Kabel lässt sich verstecken. Die Anzeige für die Vorführung 1911 in Salzburg erwähnte im Übrigen nur einen sprechenden Kopf. Dass Occultus ein Mensch war, der sich als Roboter verkleidete, halten wir für eher unwahrscheinlich.

Falls ein Leser oder eine Leserin über weitere Informationen zu Occultus verfügt, würden wir uns über eine Nachricht freuen. Das Eingangsbild und die Zeitungsausschnitte stammen aus ANNO, dem virtuellen Zeitungslesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek. Der Clip unten kommt aus dem Internet Archive; er ist aus der Technical World vom August 1911 und bringt das klassische Foto von Occultus und Otto Widmann alias „Mr. Whitman“.

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Ein Kommentar auf “Auf den Spuren von Occultus”

  1. Rudolf Seising sagt:

    Das ist mal wieder eine tolle Ausgrabung!
    Vielen Dank dafür!

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