Chipkarten von der Pader

Geschrieben am 03.09.2019 von

In Paderborn saß nicht nur Nixdorf. Die Stadt war auch Heimat der ORGA Kartensysteme GmbH; sie gehörte weltweit zu den größten Produzenten von Chipkarten. Im Jahr 2000 errichtete die Firma eine imposante neue Zentrale nahe dem Padersee. Mittlerweile gibt es nur die Erinnerung und den schriftlichen Nachlass der ORGA. Er liegt im Archiv des HNF.

Die Urform der Chipkarte, wir schrieben es im Blog, erfand in den 1960er-Jahren Helmut Gröttrup. Am 13. September 1968 beantragte er mit seinem Geschäftspartner Jürgen Dethloff in Wien ein Patent, das 1971 erteilt wurde. Am 10. September 1969 meldeten die beiden die Idee auch im Deutschen Patentamt an. Es ließ sich mit der Genehmigung bis 1982 Zeit. Helmut Gröttrup erlebte sie nicht mehr, denn er war schon 1981 gestorben.

An die Patentanmeldung in München erinnert in Kürze die Deutsche Post mit einer Sonderbriefmarke. Ob die Zeile 50 Jahre Chipkarte technikgeschichtlich korrekt ist, sei einmal offengelassen. Man soll aber die Feste feiern, wie sie fallen, und das Jubiläum gibt uns Gelegenheit, der ORGA Kartensysteme GmbH zu gedenken. Sie machte Paderborn zur Hauptstadt der Chipkarten. Die einstige Firmenzentrale ist im Eingangsbild zu sehen (Foto Stadt Paderborn); sie liegt nicht weit weg vom HNF beim Padersee.

Keimzelle der ORGA war die ORGA-Druck GmbH in Dreieich bei Frankfurt. Sie wurde Ende 1972 gegründet und fertigte Karten mit Magnetstreifen. Manchen Kunden genügten die Magnetkarten nicht; sie hätten gern etwas mit elektronischer Intelligenz gehabt. 1980 trafen sich ORGA-Chef Helmut Rübsam und ein Ingenieur aus Paderborn: Rainer Blome. Er hatte an der Universität-Gesamthochschule Elektrotechnik studiert und arbeitete im Fachbereich 14 im Labor für nachrichtenverarbeitende Systeme.

Rainer Blome

Blome schlug vor, die Karten mit einem Mikroprozessor zu versehen. Diese Idee hatte zuvor schon der französische Erfinder Roland Moreno gehabt; Frankreich war führend in der Entwicklung der neuen Technologie. Blome und Rübsam sprachen deshalb mit der Firma Honeywell-Bull, es kam aber zu keiner Abmachung. Der Paderborner Wissenschaftler musste selbst eine schlaue Karte hervorbringen. Auf der Hannover Messe 1984 wurde ein Prototyp mit einem EPROM gezeigt, einem mit UV-Licht löschbarem Halbleiterspeicher.

1985 stellte ORGA eine Chipkarte mit einem EEPROM vor: Dieser Speicher wird mit Strom gelöscht und danach neu beschrieben. Die Karte war die erste, die man frei programmieren konnte; so ließen sich viele Applikationen erproben. Sie trug einen Acht-Bit-Prozessor und fasste ein Kilobyte. Inzwischen hatte sich ein zweiter Paderborner Uni-Absolvent dem ORGA-Team angeschlossen: Bernd Deutschmann schuf das Betriebssystem des Prozessors. Den ersten Auftrag erteilte die Gesellschaft für Zahlungssysteme in Frankfurt am Main.

1987 erfolgte in Paderborn die Gründung der ORGA Bond Technik GmbH und der ORGA Datentechnik GmbH; 1991 startete ein englischer Zweig. Im gleichen Jahr lief ein Auftrag der Telekom für die SIM-Karten des D1-Netzes ein. Die nötigen Investitionen waren für Helmut Rübsam zu groß; er verkaufte seine Firma an die Preussag AG und die Bundesdruckerei. Geschäftsführer wurden Rainer Blome und Bernd Deutschmann sowie Lutz Martiny und Harald Book. Die Produktpalette reichte von Chipkarten über Lesegeräte bis zur Software.

Bernd Deutschmann

Als dritter Gesellschafter stieg die Detecon ein, eine Tochter der Deutschen Telekom. 1987 produzierte die alte ORGA 20.000 Karten im Jahr, die neue ORGA Kartensysteme GmbH fertigte 1992 drei Millionen. 1996  betrug der Umsatz 176,6 Millionen DM, die Zahl der Beschäftigten lag bei 554. Zwei Jahre später zählte man 259 Millionen und 766 Angestellte. 2001 setzte die ORGA Kartensysteme GmbH 215 Millionen Euro um. An den Standorten Paderborn und Flintbek waren insgesamt 1.400 Menschen tätig.

Damals errichtete das Unternehmen auch die erwähnte neue Zentrale. Es expandierte nach Singapur, China und in die USA; in der Nähe von Moskau lief eine erfolgreiche Fertigung an. 2002 geriet ORGA jedoch in die Krise. Es kam zu Entlassungen und Umstrukturierungen. 2005 wurden die Paderborner vom französischen Elektronikkonzern Sagem übernommen. Vom Padersee zog Sagem Orga – so hieß die Firma jetzt – ein Stückchen nach Süden in das ehemalige Forschungszentrum der Nixdorf Computer AG.

Am alten Ort verblieb die 2003 outgesourcte Softwaretochter Orga Systems. 2010 wechselte Sagem Orga nach Flintbek. Die Entwicklungsabteilung machte bis 2015 in Paderborn weiter, dann wurde sie geschlossen. Auch Orga Systems trat 2015 den Weg in die Insolvenz an. Nach kurzer Wiederbelebung durch das kanadische Unternehmen Redknee kam 2017 das endgültige Aus. Einziger Überlebender des ORGA-Imperiums ist die Idemia Germany GmbH in Flintbek, ein Nachfahre von Sagem Orga.

Die Sondermarke der Deutschen Post ist ab dem 5. September erhältlich. (Foto Bundesministerium der Finanzen)

Technikgeschichte kann kompliziert sein. Das Schicksal der Paderborner Chipkarten erforschen an der Universität Paderborn Professor Peter Fäßler und seine Studierenden. Sie untersuchen auch die gedruckten Hinterlassenschaften der ORGA; die Papiere liegen im HNF-Archiv. Für Hilfe bei unserer Untersuchung bedanken wir uns bei Jan-Martin Lutz; unser Dank geht ebenso an Bernd Deutschmann und Rainer Blome für ihre Fotos und für weitere Hinweise zur ORGA-Geschichte.

Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

3 Kommentare auf “Chipkarten von der Pader”

  1. Rita sagt:

    Ich war dabei 😉 die erste Frau bei Orga 🙂
    01.05.1987

    1. ckarlo sagt:

      h¡ Rita
      falls interesse an einem interview
      freue ich mich auf deine antwort : )

      beste wünsche aus wiesbaden ,
      ckarlo

  2. Ich, Harald Gerhards, hatte auch die Ehre, von 1989 bis 1990 als Geschäftsführer der Orga Werbeagentur ein kleines Stück des Weges mitzugehen. Es war eine sehr spannende und lehrreiche Zeit.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir stellen diese Frage, um Menschen von Robotern zu unterscheiden.