Das Jahr des rechnenden Raums
Geschrieben am 24.01.2017 von HNF
1967 veröffentlichte Konrad Zuse in der Zeitschrift „elektronische datenverarbeitung“ einen Artikel zum rechnenden Raum. Dieser enthält regelmäßig angeordnete Punkte, über die sich in den verschiedenen Richtungen Pfeile ausbreiten. Aus den Pfeilen ergeben sich Digitalteilchen; sie entsprechen den Elementarteilchen der Physik. 1969 brachte Zuse auch ein Buch heraus. 1975 erweiterte er den rechnenden Raum zum Netzautomaten.
1966 stürzte sich der Computerpionier Konrad Zuse in ein neues Gebiet: die Physik. Den Grund wissen wir nicht. Vielleicht tat er es, um sich von den Sorgen und Nöten des Geschäftslebens abzulenken. Seine Firma, die Zuse KG im hessischen Bad Hersfeld, gehörte seit zwei Jahren der Mannheimer BBC. Der Elektrokonzern steckte Millionen in das Unternehmen, doch der Aufschwung blieb aus.
Sicher ist, dass Konrad Zuse am 30. September 1966 den vermutlich ersten Text zum rechnenden Raum abschloss. Er umfasst 37 Schreibmaschinenseiten und liegt im Online-Archiv des Deutschen Museums. Im folgenden Januar beendete Zuse eine zweite Version mit 40 Seiten. Wahrscheinlich bot er die Arbeit in dieser Form dem Braunschweiger Vieweg-Verlag an. Hier betreute der Mathematiker Hans Konrad Schuff die Zeitschrift „elektronische rechenanlagen“, die er 1958 gegründet hatte.
Schuff und Zuse dürften sich schon länger gekannt haben. Im Februar 1957 startete der Mathematiker das erste deutsche Softwarehaus, den Mathematischen Beratungs- und Programmierungsdienst mbp in Dortmund. Gesellschafter waren 14 Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen. Schuff las Zuses Text durch, bat aber um eine weitere Überarbeitung. Die endgültige Fassung erschien im Herbst 1967 unter dem Titel „Rechnender Raum“ in der Vieweg-Zeitschrift. Sie ging über neun Druckseiten.
Der Artikel ist die wohl beste Darstellung von Konrad Zuses Ideen zur Physik. Sie gehen von einem nach allen Seiten offenen Universum aus, in dem sich aufs höchste geordnete Raumpunkte befinden. Man kann sie sich als Schnittpunkte eines unendlichen Gitters denken, dessen Linien rechtwinklig verlaufen. Der Abstand eines Punktes von seinen vier direkten Nachbarn – oben, unten, rechts, links – soll im Gitter überall der gleiche sein. Die Punkte reichen also durch das ganze Universum.
Über diese Punkte flitzen Pfeile in horizontaler wie in vertikaler Richtung. Ein Pfeil wird auch Digitalteilchen genannt. Das Teilchen kann ebenso aus zwei Pfeilen bestehen: einer ist horizontal und der andere vertikal ausgerichtet. Ein solches Teilchen bewegt sich in schräger Richtung, wobei der Winkel von der Länge der Pfeile abhängt. Beim Längenverhältnis P/Q springt das Teilchen auf einen Ort, der P Punktabstände in der Waagrechten und Q Abstände in der Senkrechten entfernt liegt.
Treffen sich zwei Digitalteilchen in einem Punkt, verschmelzen sie zu einem einzigen Teilchen. Im Artikel gab Konrad Zuse Regeln an, mit denen seine Komponenten berechnet werden. Andere Regeln bestimmen die Bewegungen und die Sprünge. Vermutlich stammt daher der Name „rechnender Raum“. Die digitalen Teilchen erinnern an die Vektoren der Mathematik, die Zuse natürlich kannte. Die Längen der Teilchen-Pfeile entsprächen der x- und der y-Koordinate eines Vektors.
Der Ausdruck „Digitalteilchen“ legt einen Vergleich zu den Elementarteilchen nahe, also Protonen, Neutronen oder Elektronen. Man könnte ebenso an Quarks denken, die aber 1967 kaum in den Medien präsent waren. Ansonsten verstößt der rechnende Raum gegen viele Erkenntnisse der Physik, allen voran den Welle-Teilchen-Dualismus. Die Welt ist eben nicht ordentlich, und so etwas Alltägliches wie Licht benimmt sich je nach Experiment als Folge von Wellen oder Menge von Korpuskeln.
Die starren Punkte des rechnenden Raums werden auch durch die Raumkrümmung widerlegt, die durch astronomische Beobachtungen bewiesen ist. Die größte Lücke des Zuse-Universums liegt aber woanders: Es handelt sich nicht um einen rechnenden Raum, sondern um eine rechnende Fläche. Denn nur für zwei Dimensionen gelten die Rechenregeln, die Zuse für die Bewegung eines Digitalteilchens aufstellte. Bei drei Dimensionen wäre ein völlig neuer Algorithmus erforderlich.
Konrad Zuse hat diese Lücke schließlich selbst bemerkt. 1968 baute er seinen Artikel zu einem Buch „Rechnender Raum“ aus, das 1969 wiederum im Vieweg-Verlag erschien. Dort heißt es, dass die zu unserem Thema entwickelten Gedanken sinngemäß auch auf drei Dimensionen angewandt werden könnten. Zitat: „Die Arbeiten des Verfassers sind in dieser Richtung jedoch noch nicht abgeschlossen und sollen einer besonderen Ausarbeitung vorbehalten bleiben.“
Die Ausarbeitung erschien 1975 in den „Nova Acta Leopoldina“, der Zeitschrift der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Sie trug den Titel „Ansätze einer Theorie des Netzautomaten“. Konrad Zuse ging von der Ähnlichkeit des rechnenden Raums zu abstrakten Maschinen aus, den zellularen Automaten. Ein Beispiel eines solchen Automaten ist das Spiel Life, das wir bereits in unserem Blog erklärten. Ein Netzautomat ist nun eine Verallgemeinerung des zellularen Automaten. Die Physik schrumpfte in Zuses Leopoldina-Artikel allerdings auf ein Minimum zusammen.
Die wirkliche Welt ist also wohl kein rechnenden Raum. Zuses Idee führte aber zu einer ganz neuen Forschungsrichtung, der digitalen Physik. Hier tummeln sich bekannte Naturwissenschaftler und Informatiker wie Herbert W. Franke, Edward Fredkin, Seth Lloyd oder Stephen Wolfram. Letzterer schrieb 2002 ein dickes Buch A New Kind of Science. Und 2006 fragte das Deutsche Technikmuseum Berlin in einem Symposium: Ist das Universum ein Computer?
2007 wurde schließlich ein kleiner rechnender Raum realisiert. Urheber war der Berliner Medienkünstler Ralf Baecker, der seit 2016 an der Hochschule für Künste in Bremen lehrt. Hier kann man sein Werk im Video bewundern; außerdem dient es als unser Eingangsbild. Die beiden Grafiken stammen aus dem Konrad Zuse Internet Archive des Deutschen Museums München, CC BY-NC-SA 3.0.
Eingangsbild: www.cccb.org/en/exhibitions/file/the-thinking-machine/223672