Des Speichers Kern
Geschrieben am 14.06.2019 von HNF
Über jede Folge unseres Blogs zieht sich ein Foto; es zeigt eines der wichtigsten Utensilien der Datentechnik, einen Kernspeicher. Drei Jahrzehnte lang steckten die Drahtgitter mit magnetisierten Ringen in mittelgroßen und in großen Computern; sie fanden sich auch in elektronischen Rechenmaschinen. Die Geschichte ihrer Entwicklung war kompliziert, und einer ihrer Erfinder erlitt ein tragisches Schicksal.
Am 14. Juni 1949 diktierte Jay Forrester seiner Sekretärin einen technischen Text in die Schreibmaschine. Der 1918 geborene Elektroingenieur leitete im Massachusetts Institute of Technology in Boston die Entwicklung eines Computers namens Whirlwind. Die Aktennotiz ist die wohl erste schriftliche Darstellung eines praktikablen Kernspeichers.
Die entscheidende Aussage im Text lautete: „In der Praxis könnte es möglich sein, einen einzigen Leiter durch den Kern aus magnetisierbarem Material zu führen statt als Wicklung um den Kern herum.“ Es folgte die Idee einer räumlichen Anordnung – a three-dimensional array – solcher Kerne. Daraus erwuchs eine Technik für Arbeitsspeicher, die lange die Computerwelt beherrschte. Erst in den 1970er-Jahren begannen Speicherchips, die feinen Drahtgitter mit den aufgesteckten kleinen Ringen zu verdrängen.
Die Frühgeschichte des Systems begann 1945. Damals schlug der Ingenieur John Presper Eckert, einer der Väter des ersten Elektronenrechners ENIAC, ferromagnetische Ringe als Speicherelemente vor. Das Magnetfeld in einem Ring kann zwei Richtungen annehmen, womit sich ein Bit ausdrücken lässt. Urahn des Speicherrings ist der aus der Elektrotechnik bekannte Transformator, der eine Wechselspannung in eine andere überführt. An den Seiten seines Eisenkerns trägt er zwei unterschiedliche Drahtwicklungen.
Der nächste Erfinder unserer Übersicht heißt Frederick Viehe. Er zählt zu den mysteriösen Gestalten der IT-Geschichte; geboren wurde er 1907 oder 1908. Viehe war Angestellter der Stadtverwaltung von Los Angeles und mit dem Zustand der Straßen befasst. Seine Freizeit widmete er der Elektronik. Am 29. Mai 1947 meldete er ein Patent für einen Datenspeicher an; später änderte er es mehrfach ab und teilte es auf. Unter den Patentzeichnungen finden wir eine mit magnetisierbaren Ringen. Wir kommen später noch einmal auf ihn zurück.
Im September 1949 fand ein großes Symposium über digitale Rechenanlagen in der Harvard-Universität statt; sie liegt nicht weit vom MIT im Nachbarort Cambridge. Ein Referent, der in China geborene Mathematiker Way Dong Woo, schilderte einen Verzögerungsspeicher mit winzigen Stabmagneten. Im Speicher sind die Daten ständig in Bewegung, sie springen von einem Platz zum Nachbarn. Entwickelt hatte alles ein Kollege und Landsmann von Woo, der Elektroingenieur An Wang.
Die beiden arbeiteten im Computerlabor von Harvard, das der IT-Pionier Howard Aiken leitete. Auf der Tagung zeigte Woo auch Fotos des Speichers; eine ganze Anzahl von ihnen wurden 1952 in Aikens Elektronengehirn Harvard Mark IV aufgenommen. Zu jener Zeit befanden sich die Speicher von Jay Forrester erst in der Erprobung. Der MIT-Forscher testete parallel metallische und nicht-metallische, sprich keramische Ringe. Letztere erwiesen sich als die besseren, sie gelangten im Sommer 1953 in den Whirlwind.
Ein Kernspeicher ist, salopp gesagt, ein umschaltbarer Dauermagnet. Sein Magnetfeld bleibt, auch wenn kein Strom hindurchfließt. Durch Anlegen einer elektrischen Spannung kann es aber die Richtung wechseln; die neue Orientierung steht bis zur nächsten Änderung fest. In den späten 1940er-Jahren kamen in den USA Werkstoffe in den Handel, die dieses „hartmagnetische“ Verhalten aufwiesen. Jay Forrester und An Wang erfuhren von ihnen durch die Fachpresse, deren Berichte ihre Entwicklungsarbeiten in Gang setzten.
Besagte Werkstoffe hatten deutsche Wurzeln. Es handelt sich zum einen um die Nickel-Eisen-Verbindung Permenorm 5000 Z; sie stammte von der Vacuumschmelze GmbH Hanau. In Amerika wurde sie unter Lizenz als Deltamax gefertigt. Ein anderes Material mit den gewünschten Eigenschaften war ein Magnesium-Mangan-Ferrit. Ihr Entwickler, der Chemiker Ernst Albers-Schönberg, wanderte nach dem Krieg aus Deutschland in die USA aus; er wurde Forschungsdirektor der Firma General Ceramics im Bundesstaat New Jersey.
Neben Jay Forrester und An Wang arbeiteten weitere Forscher und Firmen an den neuen Speichern. Beim Elektrokonzern RCA stellte der polnisch-amerikanische Ingenieur Jan Rachjman 1952 sein erstes Exemplar fertig. Die Kerne erzeugte er mit einer umgebauten Aspirin-Presse. Die IBM baute gleichfalls einen Kernspeicher und testete ihn in einer Lochkarten-Tabelliermaschine – hier ist ein Foto vom April 1952. 1954 brachte Big Blue das Speichermodul IBM 737 als Peripheriegerät für Computer heraus.
Wie man sich denken kann, meldeten alle Beteiligten ihre Schöpfungen zum Patent an. Wegen der technischen Ähnlichkeit ließen Gerichtsverfahren nicht lange auf sich warten. IBM kaufte in den 1950er- und 1960er-Jahren mehrere Speicherpatente auf; An Wang erhielt 500.000 Dollar, Frederick Viehe soll eine Million bekommen haben. An das Massachusetts Institute of Technology zahlte das Unternehmen 1964 dreizehn Millionen Dollar für die Nutzung der Ideen von Jay Forrester.
An Wang steckte das Geld in seine Firma. Die Wang Laboratories bauten elektronische Tischrechner, später Textverarbeitungssysteme und Minicomputer. Frederick Viehe wurde seines Reichtums nicht froh. Im Sommer 1960 unternahm er mit seiner Frau eine Autotour durch die kalifornische Mojave-Wüste; er wollte wahrscheinlich Steine sammeln. Nach einem Motorschaden ging er zu Fuß weiter und verirrte sich; er starb nach zwei Tagen in der Hitze. Seine Frau wurde lebend gefunden, doch sie erlag wenig später den Strapazen.
Damals bildeten die Magnetkerne schon die Standardtechnik für die Arbeitsspeicher von Computern. Sie wurden ebenso in anspruchsvollen elektronischen Rechenmaschinen eingesetzt. Hier ist ein Film des MIT von 1953 zum Whirlwind; bei Minute 9:25 wird der Kernspeicher vorgestellt. Der Computer wurde in den 1970er-Jahren abgebaut, einige Teile, darunter auch der Kernspeicher, existieren noch. Letzterer befindet sich inzwischen im Computer History Museum im kalifornischen Mountain View.