Der homöopathische Computer
Geschrieben am 17.03.2017 von HNF
1832 reichte der russische Staatsbeamte Semjon Korsakow bei der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg die Beschreibung einer Erfindung ein. Es handelte sich um ein System zur Analyse von Daten, das mit gelochter Pappe operierte. Die Akademie lehnte die Realisierung von Korsakows Entwurf ab. 2004 wurde aber sein Homöoskop von Studenten der Berliner Humboldt-Universität gebaut.
Die Informatik beginnt mit der Lochkarte. Eigentlich eine Erfindung aus der französischen Textilindustrie, wurde sie vom englischen Computervisionär Charles Babbage für seine analytische Maschine vorgesehen. Das war um 1835. Fünfzig Jahre später erfand Herman Hollerith sein Lochkartensystem und startete die technische Datenverarbeitung. Aus seiner 1896 gegründeten Firma entwickelte sich später die allmächtige IBM.
Die erste Idee für gelochte Pappe im Dienst der Informatik hatte aber ein anderer: Semjon Nikolajewitsch Korsakow. Geboren wurde er 1787 in der Hafenstadt Cherson am Schwarzen Meer. Sein Vater, der Militäringenieur Nikolai Korsakow, kam wenig später im Krieg um. Semjon erhielt eine exzellente Ausbildung und zeichnete sich im Kampf gegen Napoleon aus. Von 1817 an arbeitete er in verschiedenen Ministerien in der russischen Hauptstadt Sankt Petersburg. Er befasste sich vor allem mit Statistik.
1827 erwarb Korsakow ein Landgut beim Dorf Tarussowo in der Nähe von Moskau. Die folgenden Jahre verbrachte er teils in Sankt Petersburg und teils auf seinem Gut. 1845 ging er endgültig in Ruhestand. Er starb 1853; sein Grab befindet sich auf dem Kirchhof von Troiza-Wjasniki, dem Nachbardorf von Tarussowo. Einer seiner Söhne, Michail Korsakow, brachte es bis zum Generalgouverneur von Ostsibirien. Nach ihm ist die Stadt Korsakow auf der Insel Sachalin an der Pazifikküste Russlands benannt.
Semjon Korsakow interessierte sich stets für die Wissenschaft; er beherrschte Deutsch, Französisch und Englisch und hatte keine Probleme mit ausländischen Büchern und Journalen. In den 1820er-Jahren entdeckte er die Homöopathie. Die nicht unumstrittene Lehre geht auf den deutschen Arzt Samuel Hahnemann zurück; sie predigt die Heilwirkung von extrem verdünnten Stoffen. Korsakow erfand eine neue Methode für Verdünnungen, die Korsakow- oder Korsakoff-Potenzierung. Seine Berichte darüber erschienen in Frankreich und auch in Deutschland.
Die Homöopathie verwendet lange Listen von Krankheitssymptomen und dazu passenden Gegenmitteln, die Repertorien. Dieses datenorientiere Vorgehen und seine Kenntnisse der Statistik brachten Korsakow zum Grübeln. Wäre es nicht möglich, die Nutzung solcher Repertorien zu mechanisieren? Und könnte man auch andere Wissensgebiete angehen? Im Sommer 1832 setzte er sich ans Pult und brachte einen Aufsatz in französischer Sprache zu Papier. Der deutsche Titel lautet „Beschreibung eines neuen Verfahrens der Forschung“.
Das Manuskript umriss insgesamt fünf Geräte zum Darstellen, Entdecken und Vergleichen von binären Daten. Es bildete den Kern eines Förderantrags, den Korsakow am 11. September 1832 an Paul Fuß sandte, den Sekretär der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Der Antrag zielte auf eine technische Realisierung der Apparate ab. Am 24.Oktober verfasste ein Gremium der Akademie aus vier Forschern die Antwort. Das Quartett wies Korsakows Eingabe ab: Seine Apparate wurden nicht gebaut.
Dem Erfinder blieb jetzt nur der Weg in die Öffentlichkeit. Noch vor Ende des Jahres ließ Korsakow das abgewiesene Konzept in Sankt Petersburg drucken, wieder auf Französisch und mit dem längeren Titel „Beschreibung eines neuen Verfahrens der Forschung mit Maschinen zum Vergleich von Ideen“. Die Broschüre enthielt zwei Blätter mit technischen Zeichnungen. Seit 2008 liegt sie auch in deutscher Sprache vor. Im Folgenden möchten wir Korsakows Gedanken in kurzer Form erläutern.
Die Basis seines Systems bildet eine Datensammlung aus einem Wissensgebiet. Diese Daten werden in einem Koordinatensystem mit Spalten und Zeilen auf einem Bogen aus Pappe aufgetragen. Bei medizinischen Anwendungen, die Korsakow sehr interessierten, stehen Zeilen für Krankheitssymptome und Spalten für Medikamente. Eine rechteckige Lochung am Schnittpunkt einer Spalte und einer Zeile bedeutet: Das in der betreffenden Spalte verzeichnete Medikament hilft gegen das Symptom, das die Zeile ausdrückt.
Der Bogen wird auf einen Rahmen gelegt, sodass unter der Pappe noch Luft bleibt. Nun kann man mit unterschiedlichen Geräten Daten gewinnen. Das geradlinige Homöoskop mit unbeweglichen Teilen findet zu Krankheiten die – vermutlich homöopathische – Medizin. Dazu steckt man in eine Leiste, die so lang wie die Pappe breit ist, auf der Höhe Nägel hinein, wo die Zeilen der Symptome liegen. Die Leiste schiebt man über die Pappe bis zu einer Spalte, in deren Löcher alle Nägel passen. Sie nennt das gesuchte Medikament.
Das geradlinige Homöoskop mit beweglichen Teilen zeigt einen Treffer mit Hebeln auf einem Schieber. Das ebene Homöoskop prüft, wie gut ein Medikament zu einer Krankheit passt. Heilmittel und Krankheitsbild werden durch quadratische Lochkarten codiert. Der Test auf Übereinstimmung geschieht mit Nägeln wie im Eingangsbild skizziert. Das Ideeoskop hat wieder einen Schieber. Dessen Stifte dringen unterschiedlich tief in die Löcher ein. Der Vergleicher schließlich vergleicht Ketten binärer Daten des Typs Liegt vor/Liegt nicht vor.
Wie erwähnt, blieben Korsakows Apparate zu seinen Lebzeiten unrealisiert. Das Prinzip des ebenen Homöoskops wurde jedoch in den 1920er-Jahren ein zweites Mal erfunden. Die Schlitz-, Kerb- oder Randlochkarte besitzt ein Feld für schriftliche Einträge, dazu Löcher und Aussparungen. Damit werden Karten zu Gruppen zusammengefasst. Wenn man an der richtigen Stelle eine Nadel durch den Kartenstapel führt und anhebt, lassen sich Gruppen aussortieren. Hier ist eine gute Beschreibung vom Computer Cabinett Göttingen.
2004 wurde eine Maschine von Semjon Korsakow Wirklichkeit. Studenten des Seminars für Medienwissenschaften der Berliner Humboldt-Universität konstruierten ein geradliniges Homöoskop mit beweglichen Teilen. Bei der Langen Nacht der Wissenschaften zeigte es in der Bar zu Kombinationen von Flüssigkeiten das daraus gemischte Getränk an. Das Gerät steht heute im medienarchäologischen Fundus und zeugt vom Einfallsreichtum des genialen Homöopathen und wohl ersten russischen Informatikers.