Der Lauscher an der Wand
Geschrieben am 16.01.2018 von HNF
Die Wohnung ist unverletzlich; Durchsuchungen, Eingriffe und Beschränkungen sind streng reglementiert. Das sagte Artikel 13 des deutschen Grundgesetzes in der Urfassung von 1949. Vor 20 Jahren, am 16. Januar 1998, beschloss der Bundestag eine umfangreiche Ergänzung des Artikels: Sie erlaubte staatlichen Organen, mit sogenannten technischen Mitteln Wohnungen abzuhören. Damit legalisierte er den Großen Lauschangriff.
Eigentlich ist Lauschen verboten. Paragraph 201 des deutschen Strafgesetzbuchs droht jedem Bürger Geld- oder Gefängnisstrafen an, der unbefugt andere abhört oder ihre Worte auf Tonband aufnimmt. Ausnahmen sind höchstens dann gestattet, wenn an der Weitergabe der gewonnenen Informationen ein überragendes öffentliches Interesse besteht.
Was Otto Normalverbraucher nicht darf, ist aber staatlichen Ohren erlaubt. Es gibt wohl keinen Geheimdienst, der seine Abhörgeräte, im Volksmund Wanzen genannt, im Schrank lässt. Manchmal bringen die Schlapphüte kleine Meisterwerke hervor wie das hölzerne Siegel der Vereinigten Staaten. Es war ein Geschenk der Sowjetunion und hing ab 1945 in der US-Botschaft in Moskau. Die Amerikaner fanden erst 1952 das Mikrofon. Es arbeitete stromlos und übertrug Schall auf Mikrowellen, mit denen das Siegel bestrahlt wurde.
Einige Agenten wurden aber auch erwischt. Am 28. Februar 1977 schockte der SPIEGEL seine Leser mit der Cover-Zeile Lauschangriff auf Bürger T. Das Magazin berichtete von einer Abhöraktion des Kölner Bundesamts für Verfassungsschutz Anfang 1976. Das Ziel war der Atomforschers Klaus Traube; er stand im Verdacht, Terroristen zu helfen. Mitarbeiter des Amtes brachen in sein Haus ein und installierten eine batteriebetriebe Wanze mit Sender. Bei einem zweiten Einbruch wurde sie später wieder mitgenommen.
Die Aktion führte zu einem der größten Spionageskandale der 1970er-Jahre. Artikel 13 des Grundgesetzes erklärte in der 1976 geltenden Version Wohnungen für unverletzlich. Absatz 3 des Artikels ließ höchstens Eingriffe zu, um eine allgemeine Gefahr oder eine Lebensgefahr für einzelne Personen abzuwehren. Davon konnte aber bei Klaus Traube nicht die Rede sein, der im Übrigen nichts verbrochen hatte. Der Verfassungsschutz hatte schlicht und einfach das Grundgesetz gebrochen.
Die Affäre förderte die bei vielen Menschen bestehenden Ängste vor einem autoritären „Atom-Staat“. Zugleich machte sie den Begriff des Lauschangriffs populär. Er stammt aus der Geheimdienstwelt und bezieht sich meist auf das akustische Mithören per Mikrofon und Sender. Daneben existiert die Überwachung von Telefon- und Internetverbindungen, auf die wir nicht näher eingehen möchten. In einem Blogbeitrag von 2017 behandelten wir bereits den Staats- oder Bundestrojaner.
Ein Jahr nach dem Fall Traube wurde der nächste Lauschangriff bekannt. Diesmal traf es die Sekretärin des Verteidigungsministers Georg Leber. Der Bundeswehr-Geheimdienst MAD unterstellte ihr Spionage für die DDR und verwanzte ihre Wohnung. Am 26. Januar 1978 enthüllte die Illustrierte „Quick“ die Geschichte; eine Woche später trat Leber zurück. Eine Weile herrschte Ruhe an der Lauschfront, außer natürlich im Osten. Da hörte Abteilung 26 des Ministeriums für Staatssicherheit ungestört Wohnungen, Hotels und Botschaften ab.
In den 1990er-Jahren war Deutschland vereinigt, und der Lauschangriff, der sich zu einem Großen gemausert hatte, wurde wieder zum Thema der Politik. Die Politiker saßen noch in Bonn, es regierte Bundeskanzler Helmut Kohl mit einer Koalition von CDU/CSU und FDP. Diese machte sich die Entscheidung über das Abhören nicht leicht. Anfang 1996 legte die FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ihr Amt nieder. Sie war gegen die für den Lauschangriff nötige Grundgesetzänderung.
Auch die SPD – sie bildete damals mit den Grünen und der PDS die Opposition – hatte ihre Probleme. Am 16. Januar 1998 stand aber die Zweidrittelmehrheit im Bundestag, die für jene Änderung erforderlich war. 125 SPD-Abgeordnete stimmten mit der CDU/CSU-Fraktion dafür, 105 sprachen sich dagegen aus. Bei der FDP lautete des Verhältnis 35 pro und 10 contra. Am 27. März 1998 trat das entsprechende Gesetz in Kraft. Artikel 13 enthielt vier neue Absätze, die „technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen“ zuließen.
Nun begann ein Tauziehen um die Ausführungsbestimmungen, nämlich um die Änderung der Strafprozessordnung. Hier verlangte der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat eine Lausch-Befreiung für Berufsgeheimnisträger. Darunter fallen etwa Ärzte, Rechtsanwälte, Geistliche, Parlamentarier und Journalisten. Der Regierung gefiel das gar nicht, sie erlitt jedoch bei der Abstimmung im Bundestag eine krachende Niederlage. Die Ausnahmen kamen wieder herein. Nun wurden die Änderungen der StPO abgesegnet.
Ab 5. Mai 1998 galt das „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität“, das die einzelnen Punkte der Novellierung festlegte. Am 3. März 2004 erklärte das Bundesverfassungsgericht allerdings die StPO-Änderung für unzulässig. Es dauerte bis Juni 2005, bis ein „Gesetz zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (akustische Wohnraumüberwachung)“ vorlag. Der seltsame Titel deutet die Geburtswehen an, mit denen jenes Gesetz zur Welt kam.
Seit dem 25. Juni 2005 gelten sowohl der 1998 geänderte Grundgesetzartikel 13 als auch der neu gefasste Paragraph 100 der Strafprozessordnung. Paragraph 100c erlaubt den Großen Lauschangriff, die Ausnahmen stecken in Absatz 5 von Paragraph 100d, d. h. im Verweis auf Paragraph 53. Daten zu tatsächlich ausgeführten Lauschangriffen findet der Leser im Netz; die aktuelle Liste betrifft das Berichtsjahr 2016. Demnach fanden in fünf Bundesländern insgesamt sechs Attacken statt.
Zwei Anmerkungen zum Schluss: Wo es einen Großen Lauschangriff gibt, gibt es auch einen Kleinen, und der meint die akustische Überwachung außerhalb der Wohnung. Der eifrige Lauscher aus dem Eingangsbild horcht an der Wand der Hochschule für Musik in Freiburg. Er gehört zu einem Kunstwerk des Bildhauers Karl-Henning Seemann.
Der Lauscher an der Wand hat einen berühmten Vorgänger. In der Phonurgia Nova des Jesuitengelehrten Athanasius Kircher aus dem Jahre 1650 ist auf einem Stich ein meerschneckenartiges Hörrohr (Tubus Cochleatus) in die Wand eingelassen, das die Geräusche, vor allem die Gespräche auf dem Hofe, durch den Fürsten abhörbar macht. Kircher beschäftigte sich intensiv mit dem Schall und seinen technischen Grundlagen und denkbaren Anwendungen.
Knapp 370 Jahre nach Kircher haben Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) gemeinsam mit Kollegen von Adobe und Microsoft ein Abhörverfahren entwickelt, das allein aus den Vibrationen, die gesprochene Sprache auf Gegenständen aller Art auslöst, diese rekonstruierbar macht. Moderne Videokameras können nämlich dieses Vibrieren aufzeichnen. Und aus dem Videomaterial lassen sich – wie Demos zeigen – mit einem mehrstufigen Algorithmus die Audiosignale rekonstruieren. Die gewonnenen Tonspuren sind verständlich. Die Techniker experimentierten mit vielen verschiedenen Gegenständen: Sie filmten Vibrationen auf Topfpflanzen, Teekannen, Kaffeebechern, Alufolie und Chipstüten. (nach SZ 23.9.2014)