Der Verräter von Bletchley Park
Geschrieben am 21.06.2019 von HNF
Alan Turing war Computerpionier und Kryptologe; im Krieg hatte er großen Anteil an der Entschlüsselung der Chiffriermaschine Enigma. Am 25. Juni spricht im HNF darüber sein Neffe, Sir Dermot Turing. Er schildert die wenig bekannten Anfänge der Dechiffrierung. In unserem Blog gehen wir auf eine andere vergessene Episode der Enigma-Geschichte ein. Sie führt nach Amerika.
Seit den 1970er-Jahren weiß die Welt vom Entschlüsselungszentrum Bletchley Park. Im Gutshaus – siehe Eingangsbild – und daneben errichteten Baracken knackten englische Kryptologen im Zweiten Weltkrieg die Chiffriermaschine Enigma und ihre Funksprüche. Dabei half auch Alan Turing mit. Das Ausmaß der Aktivitäten blieb geheim, aber mindestens ein Hinweis erreichte die deutsche Seite. Er kam nicht aus Bletchley Park, sondern aus der amerikanischen Bundeshauptstadt Washington.
1975 brachte eine Zeitschrift der amerikanischen Kryptologie-Agentur NSA einen Artikel „Der Fall WICHER: deutsche Kenntnis der polnischen Erfolge gegen die ENIGMA“. Der Verfasser hieß Joseph Meyer, und sein Text war Top Secret Umbra; die Einstufung zeigt an, dass er auf Abhörmaßnahmen basierte. Die Quellenangaben legen nahe, dass sie während des Krieges in Bletchley Park geschahen. Meyer stützte sich vermutlich auf entschlüsselte deutsche Funksprüche. Heute ist sein Artikel nicht mehr geheim, sondern steht komplett im Netz.
„Wicher“ ist das polnische Wort für Sturm. Es bezeichnete in den 1930er-Jahren auch die Abteilung des polnischen Geheimdienstes, die Enigma-Funksprüche dechiffrierte. Wie wir schon im Blog erzählten, hatten seine Kryptologen entsprechende Methoden entwickelt. In der NSA-Zeitschrift deutete Joseph Meyer an, dass ihre deutschen Kollegen davon etwas ahnten. Zitat: „Im Laufe des Krieges ergriffen sie jede erdenkliche Maßnahme, um alle Verschlüsselungen zu verbessern.“
Auf Seite 8 seines Artikels erwähnte Meyer den deutschen Geheimdienst, die Abwehr. Es heißt dort: „Im August 1943 übermittelte die Abwehr den Bericht eines deutschen Agenten, der an hoher Stelle im Marineministerium in Washington arbeitete, mit dem Inhalt, dass die operativen Anweisungen an die U-Boote mitgelesen würden. Die Abwehr hält ihn für ihren besten Mann in Washington.“ Man sollte annehmen, dass diese Erkenntnis in Berlin die Alarmglocken schrillen ließ, doch es passierte wenig.
Ehe wir den Agenten weiter verfolgen, ein letztes Wort zu Joseph Meyer. Im Juli 1977 verschickte er Warnungen vor der gerade erfundenen Kryptografie mit öffentlichem Schlüssel; sie würde gegen das Gesetz zum Export von Kriegswaffen verstoßen. Martin Hellman, einer der Erfinder, sah sich schon mit einem Bein im Knast. Die Presse bekam Wind von der Sache; ihre Berichte bewirkten einen Aufruhr unter Wissenschaftlern wie Politikern. Hellman blieb straffrei; 2016 erhielt er mit Whitfield Diffie den Turing-Preis.
Zur Jahrtausendwende wurde bekannt, dass unser Abwehr-Agent ein Schweizamerikaner war. Seit 2014 ist die Originalquelle online – ein Dankeschön an Krypto-Blogger Christos Triantafyllopoulos! Die Seite aus dem Kriegstagebuch des Befehlshabers der U-Boote, sprich Großadmiral Karl Dönitz, liegt in der Bibliothek des US-Marineministeriums. Die entscheidenden Sätze lauten: „Seit einigen Monaten Entzifferung deutschen Marinecodes hinsichtlich Befehlen an operierende U-Boote geglückt. Alle Befehle werden mitgelesen.“
Als Gewährsmann nennt das Tagebuch einen „Amerika-Schweizer in hoher Sekretärstellung in USA-Marineministerium“. Nach einer anderen Quelle soll der Agent außerdem ein Verwandter des deutschen Militärattaches – von der Gesandtschaft in Bern? – gewesen sein und öfter dienstlich London besucht haben. Wir können ausschließen, dass er einer der Staatssekretäre im Ministerium war; die hohe Sekretärstellung dürfte ein normaler Schreibtisch-Posten gewesen sein.
Die Information aus den USA floß wohl nicht direkt zur Abwehr, sondern ging an einen Adressaten in der Schweiz, der mit Deutschland sympathisierte; der gab sie dann weiter. Der Computerpionier Friedrich Bauer verdächtigte in seinem Kryptologie-Buch den Schweizer Geheimdienstchef Roger Masson. In der Literatur zur deutschen Spionage wird unser Agent sonst nicht erwähnt. Der Fachautor Ladislas Farago hielt den spanischen Militärattaché José Carlos Garcia für den besten Abwehr-Agenten in Washington.
Wir wissen jedenfalls nicht, ob der „Amerika-Schweizer“ bewusst oder unbewusst für Deutschland tätig wurde. Könnte man ihn 76 Jahre später identifizieren? Bislang hat sich noch niemand die Mühe gemacht. Die Angestellten des Marineministerium müssten aber im amerikanischen Nationalarchiv zu ermitteln sein, und ein deutscher, französischer oder typisch schweizerischer Nachname sollte auffallen. Vielleicht ist einer unserer Leser einmal in Washington und schaut nach. Dann gäbe es ein Enigma-Rätsel weniger.
Ein anderes Rätsel wird am kommenden Dienstag im HNF gelöst, nämlich wie die Enigma wirklich geknackt wurde. Darüber spricht am 25. Juni Sir John Dermot Turing, Genetiker, Historiker, Anwalt, Schriftsteller und Neffe des berühmten Alan Turing. Codename X, Y & Z beginnt um 19 Uhr, der Eintritt ist frei. Sir Dermot trägt englisch vor, es findet aber eine Simultanübersetzung statt. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!