Die Wanze im Staatssiegel

Geschrieben am 09.09.2022 von

Im August 1945 erhielt der amerikanische Botschafter in Moskau von sowjetischen jungen Pionieren ein Geschenk: ein in Holz geschnitztes Siegel der USA. Es wurde in der Residenz des Diplomaten an der Wand befestigt. Am 10. September 1952 fand ein Sicherheitsexperte des US-Außenministeriums im Siegel ein raffiniertes Abhörgerät. Erfunden hatte es der russische Pysiker Leon Theremin.

Die Szene erinnerte an einen Agentenfilm. Am 10. September 1952 diktierte George F. Kennan, der amerikanische Botschafter in Moskau, in seiner Residenz seiner Sekretärin einen Text. Es war Spielmaterial, wie es im Spionage-Jargon heißt. Der Text ging aber auf unbekannte Weise in den Äther und wurde von einem Experten aufgefangen, der mit einem Funkgerät in der Residenz saß. Die Aktion führte ihn zu einer der erstaunlichsten Abhöranlagen in der Geheimdienst-Geschichte.

Averell Harriman in den 1940er-Jahren

Alles begann am 4. August 1945. An diesem Tag überreichte eine Delegation von jungen Pionieren – das war die sowjetische Jugendorganisation – der Moskauer Botschaft der USA ein Geschenk. Es handelte sich um eine hölzerne Kopie des amerikanischen Staatssiegels, genauer gesagt, von der Vorderseite mit dem Adler. Der Durchmesser betrug 55 Zentimeter. Das Präsent nahm der damalige Botschafter Averell Harriman entgegen; es fand einen Platz in seiner Residenz. Sie lag am Spasopeskowskaja-Platz im Stadtteil Arbat und hieß allgemein Spaso-Haus.

Die in Moskau tätigen Diplomaten rechneten damit, dass der sowjetische Geheimdienst sie belauschte. Anfang 1952 wurde das Spaso-Haus von russischen Arbeitskräften renoviert, denn ein neuer Botschafter trat seinen Dienst an, der oben erwähnte George F. Kennan. Er bat das Außenministerium in Washington um eine Suche nach Abhöranlagen; sie verlief ergebnislos. Im September 1952 startete der Sicherheitstechniker des State Departments, Joseph Bezjian, eine zweite Untersuchung. Er verbrachte drei Tage als Gast in der Residenz; seine Ausrüstung wurde separat ins Gebäude gebracht.

Das Spaso-Haus, die Moskauer Residenz des amerikanischen Botschafters

Bezjian war 36 Jahre alt und gebürtiger Armenier; hier sind einige Bilder von ihm. Er wuchs in den USA auf und studierte Elektrotechnik am MIT und an der Universität des Bundesstaats Ohio. Ab 1943 arbeitete er für die Armee; 1949 wechselte er ins Außenministerium. Seine Suchaktion in Moskau fand vermutlich am 10. September 1952 statt; das ist eine spätere Schilderung. Die Sekretärin von George Kennan wurde in seine Residenz bestellt, um ein Diktat aufzunehmen; Bezjian hoffte, dass sowjetische Lauscher erstens davon erfuhren und zweitens ihr Abhörsystem aktivierten.

Genau das geschah: Bezjian hörte Kennans Stimme und das Klappern der Schreibmaschine in seinem Empfänger. Er betrat mit einer tragbaren Antenne den Raum – das Diktat ging die ganze Zeit weiter – und ermittelte schnell die Position des Senders. Er steckte im hölzernen Siegel an der Wand. Der Sicherheitsexperte nahm es herunter und setzte die Tests fort. Das merkten auch die Lauscher, die Funkübertragung brach ab. Bezjian öffnete das Siegel und fand eine Wanze mit zwei Zentimetern Durchmesser. Er zog sich ins Gästezimmer zurück und legte sich schlafen, mit der Wanze unterm Kopfkissen und dem Siegel unter dem Bett.

Nachbau der Moskauer Wanze im Museum des Geheimdienstes NSA. Vorne in der Büchse sitzt die Membran, dahinter eine winzige Elektrode. Unten ist die Antenne.

Joseph Bezjians Fund wurde in die USA geflogen und von Forschern des FBI in Augenschein genommen. Die Wanze erwies sich als ein Kondensatormikrofon ohne Stromversorgung, doch mit einer Antenne. Wichtigster Bestandteil war eine metallene Membran, die Schall registrierte. Beschickte man das Mikrofon mit Mikrowellen im Bereich 1.700 Megahertz, strahlte es über die Antenne Wellen gleicher Frequenz ab, die im Rhythmus der Schallwellen moduliert waren. So konnten im Raum geführte Gespräche abgehört werden.

Nähere Einzelheiten zum Thing, wie die Moskauer Wanze bald hieß, bringen ein Bericht des FBI von Ende 1952 und die Internetseite Crypto Museum. Die Darstellung des englischen Spycatchers Peter Wright erscheint uns eher unwahrscheinlich. Aus dem Jahr 1947 ist ein Foto überliefert, das US-Außenminister George Marshall vor dem verwanzten Siegel zeigt; man sieht es links oben im Bild. Damals wurden auch das Spaso-Haus und seine Umgebung gefilmt. In einem der Nachbarhäuser saßen vermutlich die sowjetischen Geheimdienstler mit dem Mikrowellen-Strahler.

Leon Theremin und die amerikanische Musikerin Clara Rockmore im Jahr 1929

Der Schöpfer des Abhörsystems war Lew Termen alias Leon Theremin. Er wurde 1896 in Sankt Petersburg geboren, wo er Musik und Physik studierte. 1920 erfand er das nach ihm benannte Instrument. Von 1928 bis 1938 wohnte Theremin in New York. 1939 kam er in ein sowjetisches Straflager, konnte dann aber in einer Forschungsstätte des Geheimdienstes NKWD arbeiten. Dort erdachte er sein Abhörgerät. Nach seiner Rehabilitierung 1947 blieb er im Geheimdienst, ab 1964 lebte er normal in Moskau. Um 1990 nahm ihn die Kulturwelt wieder wahr, 1991 reiste er in die USA. Er starb 1993 in der russischen Hauptstadt.

Theremins geheime Tätigkeit wurde erst 1988 bekannt. Schon am 20. März 1953 schrieb die Zeitung „Washington Evening Star“ über seine Wanze; der Artikel blieb jedoch unbeachtet, vielleicht wegen der Oscar-Verleihungen am Vortag. Mehr Aufsehen erregte am 26. Mai 1960 die Enthüllung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der amerikanische UNO-Vertreter Henry Cabot Lodge zeigte eine Replik des Moskauer Siegels. Damit wollte er nachträglich Missionen von Spionageflugzeugen über der Sowjetunion rechtfertigen.

Henry Cabot Lodge erklärt das Siegel. Die Wanze saß hinter dem Schnabel des Adlers.

Ab 1954 arbeitete der Geheimdienst CIA mit holländischen Forschern weiter an Theremins Erfindung. Neben dem CIA-Projekt Easy Chair gab es einen englischen Nachbau SATYR. Die sowjetischen Kollegen waren ebenfalls nicht untätig und beamten das Moscow Signal auf die Botschaft der USA. Das FBI revanchierte sich mit der Operation Monopoly, die aber fehlschlug. Die jüngste Stufe des Geheimdienst-Krieges dürfte das Havanna-Syndrom sein. Der Wanzen-Entdecker Joseph Bezjian hat es nicht mehr miterlebt, er starb 1986.

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