Ein Cembalo zum Schreiben

Geschrieben am 08.11.2022 von

Am 30. September 1855 erhielt der italienische Advokat Giuseppe Ravizza ein Patent für ein „Cembalo Scrivano“. Es zählt zu den frühesten mechanischen Schreibgeräten; ein Exemplar in der Stadt Novara könnte das älteste der Welt sein. Das HNF besitzt einen Nachbau des Schreibklaviers; er ist seit kurzem als Leihgabe in einer Ausstellung in Berlin zu sehen.

„Piemontesischen Blättern zufolge hat der Advokat Giuseppe Ravizza in Novara ein klavierartiges Instrument erfunden, das beim Schreiben die Feder völlig verdrängen soll, da durch den Druck auf die, den einzelnen Buchstaben entsprechenden Tasten bei einiger Uebung jede Schrift in der drei- und auch vierfach kürzern Zeit nach seiner Versicherung niedergeschrieben sein wird; außerdem soll das Instrument, dem der Erfinder den Namen ‚Cembalo Scrivano‘ beilegt, in telegraphischen Bureaus, auf Reisen während des Fahrens, von Kranken etc. mit großem Vortheil gebraucht werden können.“

Dieser Artikel stand am 16. Oktober 1855 in der Wiener Zeitung und ganz ähnlich in anderen Blättern des Kaiserreichs. Das Königreich Sardinien-Piemont grenzte im Norden Italiens an österreichisches Gebiet; die Provinzhauptstadt Novara liegt vierzig Kilometer westlich von Mailand, das damals noch von Wien verwaltet wurde. Das italienische „Cembalo Scrivano“ heißt wörtlich übersetzt Schreib-Cembalo; in der Literatur bürgerte sich aber der Ausdruck Schreibklavier ein. Wir möchten das Gerät ab jetzt genauso nennen.

Giuseppe Ravizza mit Ehefrau und einer seiner Töchter

Der erwähnte Giuseppe Ravizza wurde am 19. März 1811 in Novara geboren. Er studierte Jura und arbeitete danach als Rechtsanwalt in seiner Heimatstadt. 1833 hatte er Kontakt zum Ingenieur Pietro Conti, der im nahe gelegenen Ort Cilavegna wohnte. Conti baute in den 1820er-Jahren eine Schreibmaschine, den Tachygraphen. Er umfasste eine bewegliche Unterlage für das Papier und darüber einen verschiebbaren Kranz mit Drucktypen. Durch eine Klaviertastatur konnte der Bediener einen Buchstaben auswählen, mit Tinte schwärzen und auf den Papierbogen setzen.

Ravizza war vom Tachygraphen beeindruckt und wollte ihn verbessern. Ab 1837 entwickelte er ein neues Schreibklavier, 1846 lag ein Prototyp vor. Nach Anfertigen weiterer Modelle erhielt er am 30. September 1855 ein Patent vom Finanzministerium in Turin. Sein Gerät besaß zwei Reihen mit jeweils sechzehn Tasten; sie trugen die Buchstaben des Alphabets und einige Sonderzeichen. In der Mitte der Maschine befand sich ein Ring mit Typenhebeln. Ein Tastendruck schlug den zugehörigen Hebel von unten gegen die Walze mit dem Papier. Die Walze ließ sich nach links und rechts verschieben.

Zeichnung aus Ravizzas Patent mit einer Seitenansicht der Maschine; man erkennt zwei Typenhebel. (Bild Museo Nazionale della Scienza e della Tecnologia Leonardo da Vinci di Milano CC BY-SA 4.0 seitlich beschnitten)

Die Buchstaben auf dem Blatt entstanden durch ein Stück Stoff mit Fett und Graphit; es wurde offenbar unter der Walze aufgespannt. Ein „Cembalo Scrivano“ aus dem Jahr 1857 verwahrt ein Museum in Novara: hier und hier gibt es Fotos. Es ist vielleicht die älteste im Original erhaltene Schreibmaschine. Später brachte Giuseppe Ravizza ein Modell mit neu gestalteter Tastatur und einem Farbband heraus; es läuft von einem kleinen Kran zur Walze und wieder zurück. Eine solche Maschine besitzt das Wissenschafts- und Technikmuseum von Mailand; nach ihr entstand der Nachbau des HNF in unserem Eingangsbild.

Rätselhaft bleibt, ob die zweite Generation des Schreibklaviers eine sichtbare Schrift erzeugte, wie in der Literatur behauptet. Unser Foto ganz unten bringt einen Zoom auf den Schreibkopf des HNF-Nachbaus. Technisch sinnvoll wäre eine Papierführung um die Walze herum auf die vordere, schräg ansteigende Ablage. In diesem Fall sähe der Schreiber oder die Schreiberin zumindest die letzte getippte Zeile. Möglicherweise diente das Farbband nur zum Schwärzen der jeweils ausgewählten Typen, es schob sich also nicht auf das Papier.

Das Schreibklavier im Museum von Mailand (Foto Museo Nazionale della Scienza e della Tecnologia Leonardo da Vinci di Milano CC BY-SA 4.0 seitlich beschnitten)

Insgesamt fertigte Ravizza bis 1884 siebzehn Schreibklaviere. Er zeigte einige von ihnen auf Industrieausstellungen, verkauft hat er nur wenige. Über die neuen amerikanischen Schreibmaschinen notierte er in seinem Tagebuch: „Mein Nachahmer oder Fälscher Remington schwimmt in Millionen, während ich krank bin und alt werde.“ Gegen Ende seines Lebens beschäftigte er sich mit der Entwicklung eines mechanischen Webstuhls sowie mit historischen und philologischen Studien. Er wirkte außerdem an der Gründung eines archäologischen Museums mit.

Giuseppe Ravizza starb am 30. Oktober 1885 in Livorno in der Toskana. In seiner Heimat wurde er nicht vergessen. Hundert Jahre nach dem Patent von 1855 fand in Mailand eine Ausstellung zu ihm und seiner Erfindung statt, das Begleitbuch ist online. Am 22. Oktober 2022 öffnete die Sonderschau Klaviatur – Tastatur – Interface im Musikinstrumenten-Museum Berlin, die auch das schreibende Cembalo aus dem HNF zeigt. Es kann dort bis Ende Dezember besichtigt werden. Das Museum liegt nahe dem Potsdamer Platz an der Ben-Gurion-Straße hinter dem Sony-Center.

Der Schreibkopf des „Cembalo Scrivano“ wirft die Frage auf, wie das Papier um die Walze geführt wurde und wie genau das Tippen verlief. Bitte die ansteigende Ablage beachten.

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