Ein Computer nach Vorschrift

Geschrieben am 25.06.2020 von

Wer nur ein wenig von der Informatik weiß, kennt die Von-Neumann-Architektur. Sie ist die grundlegende Struktur der allermeisten Digitalrechner. Ihr Urheber war der Mathematiker und Computerpionier John von Neumann. Vor 75 Jahren wurde eine Broschüre aus seiner Feder verschickt, die jene Architektur beschrieb. Sie trug den kryptischen Titel „Erster Entwurf eines Berichts über den EDVAC“.

Früher hatten Elektronenrechner Namen, und sie endeten häufig auf  -AC  wie ENIAC, MANIAC, UNIVAC oder ILLIAC. Es waren englische Abkürzungen; das C am Schluss stand in der Regel für „Computer“. Das galt auch für den EDVAC, den „Electronic Discrete Variable Automatic Computer“. Auf Deutsch wird daraus der elektronische und automatische Rechner mit diskreten Variablen. EDVAC hat dabei nichts mit dem englischen EDSAC zu tun, den wir vor einem Jahr behandelten.

Die Väter des EDVAC haben wir ebenfalls schon im Blog getroffen. Der Physiker John Mauchly und der Ingenieur John Presper Eckert konstruierten von 1942 bis 1945 den ersten beliebig programmierbaren Elektronenrechner ENIAC. Im Februar 1946 wurde er eingeweiht. Seit August 1944 befassten sich die beiden mit einem Nachfolger, dem zitierten EDVAC. Die Entwicklungsarbeiten fanden wie beim ENIAC an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia statt.

John von Neumann um 1950 (Foto Los Alamos National Laboratory)

Die Hauptfigur der EDVAC-Geschichte heißt aber John von Neumann. 1903 in Budapest geboren und seit 1931 in Princeton ansässig, war er der wohl beste Mathematiker des Landes. Er kannte sich zudem mit der Physik von Explosionen aus; im Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Berater in der Rüstungsforschung und beim geheimen amerikanischen Atombombenprojekt. John von Neumann erfuhr per Zufall von der Computerentwicklung in Philadelphia. Im Spätsommer oder Frühherbst 1944 kam er in Kontakt mit John Mauchly und John Presper Eckert.

Von Neumann saugte alle Informationen zu ENIAC und EDVAC auf und verarbeitete sie zu einem Computerkonzept. Dieses brachte er handschriftlich zu Papier und schickte es an den Mathematiker Herman Goldstine; er vertrat im ENIAC-Team die Armee, die den Rechner finanzierte. Goldstine ließ das Konzept abtippen und kopieren. In der letzten Juniwoche 1945 brachte er 24 Exemplare des First Draft of a Report on the EDVAC in Umlauf. Der Erste Entwurf eines Berichts zum EDVAC – so die deutsche Übersetzung – umfasste 101 Seiten.

Vorderseite des „First Draft“. Das Erscheinungsdatum war der 30. Juni 1945, doch einige Exemplare wurden vorher verschickt.

Sie widmeten sich dem Aufbau eines superschnellen („very high speed“) automatischen Digitalrechners. John von Neumann wies ihm sechs Teile zu – wir verwenden einmal die gewohnten Bezeichnungen: ein Rechenwerk, ein Steuerwerk, einen Arbeitsspeicher, Input und Output sowie einen externen Speicher. Den Arbeitsspeicher sah von Neumann als ein Werkzeug („as one organ“), mit anderen Worten, er nahm sowohl Zahlen wie Befehle auf. Diese Eigenschaft wurde später Speicherprogrammierung genannt.

Von Neumanns fiktiver Computer rechnete mit Elektronenröhren und im Dualsystem. Wir finden auch das „binary digit“, das wenige Jahre später den Namen Bit bekam. Der Erste Entwurf enthält keine Schaltpläne, sondern Verknüpfungen sogenannter E-Elemente. Sie funktionieren wie elektrische Schaltkreise, erinnern aber entfernt an neuronale Netze. John von Neumann folgte dabei einem Aufsatz der Mediziner Warren McCulloch und Walter Pitts von 1943, der ein digitales Modell der Gehirnzellen skizzierte.

Schema der Von-Neumann-Architektur. Arbeits- und Massenspeicher wurden zusammengefasst. CPU ist die „Central Processing Unit“ oder Zentraleinheit.

Der „First Draft of a Report on the EDVAC“ war eine grundlegende Beschreibung von künftigen Elektronenrechnern und gilt als die Geburtsurkunde des uns bekannten Computers. Er wurde schnell weiter vervielfältigt und übte großen Einfluss auf Forscher in englischsprachigen Ländern aus. Die Kombination aus Rechenwerk, Steuerwerk, Eingabe, Ausgabe und Speicher mit Programmierung bilden die Von-Neumann-Architektur und das Idealmodell einer programmgesteuerten digitalen Rechenanlage.

Allerdings blieben auch Fragen offen. Ging die Veröffentlichung vor 75 Jahren auf John von Neumann zurück oder war sie ein Schnellschuss von Herman Goldstine? Der „First Draft“ hatte weder ein Vorwort noch eine Danksagung; der Autor stellte sich als alleiniger Schöpfer der EDVAC-Architektur dar. Dabei wurde der Aufbau des neuen Computers mit Sicherheit im ENIAC-Team diskutiert. In einem Interview ließ John Presper Eckert 1977 kein gutes Haar an John von Neumann und beschuldigte ihn posthum des Ideenklaus.

EDVAC im Dienst: Vorne steht der Operator William Monzel, hinten Richard Bianco.

Der Bau des realen EDVAC begann zehn Monate nach dem ersten Entwurf. Im April 1946 unterzeichneten die US-Armee und die Universität von Pennsylvania den Vertrag. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich John Presper Eckert und John Mauchly mit der Hochschule zerstritten und aus dem Projekt verabschiedet. Fertig wurde der Computer 1949; zwei Jahre später ging er auf einem Testgelände der Armee im US-Staat Maryland in Betrieb. In der Nähe lief der aus Philadelphia zugezogene ENIAC. Ende 1962 wurde der EDVAC abgeschaltet und Anfang 1963 verschrottet.

Der einzige Überrest ist ein Halbaddierer in der Sammlung der Smithsonian Institution in Washington. Das Bauteil mit vier Elektronenröhren ist unten abgebildet. Unser Eingangsbild zeigt einen Von-Neumann-Rechner mit Relais und ausführlichen Erklärungen; er steht in den Technischen Sammlungen der Stadt Dresden. 1958 arbeitete er im Institut für Maschinelle Rechentechnik der Technischen Universität Dresden, das der Computerpionier Nikolaus Lehmann leitete. Das Foto der Mini-EDVAC nahm Matthias Erfurth auf (CC BY-SA 3.0).

Foto National Museum of American History, Smithsonian Institution

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