Ein Land auf Karteikarten
Geschrieben am 22.11.2019 von HNF
Vor dreißig Jahren, am 24. November 1989, erfuhren die Schweizer von einer ganz besonderen Datensammlung. Die Bundespolizei in Bern hatte seit Anfang des 20. Jahrhunderts Informationen über In- und Ausländer notiert. Im Laufe der Zeit kamen 900.000 Karteikarten zusammen. Die Enthüllung löste den Fichenskandal aus. Als Nachfolgerin der Kartei wurde 1994 die Datenbank ISIS angelegt.
Ein weiser Mann bemerkte einmal, dass der Skandal sehr oft erst dann beginnt, wenn ihm die Polizei ein Ende macht. Etwas ähnliches passierte 1989 bei der Fichenaffäre, dem größten Schweizer Datenskandal der Nachkriegszeit. Eine Fiche ist eine Karteikarte, und eine Sammlung solcher Karten bewegte damals die Gemüter. Angefangen hatte aber alles zwei Jahre früher mit einem ganz anderen Thema.
1987 begannen im Tessin Ermittlungen gegen zwei Armenier. Sie handelten mit Gold und Devisen und standen in Kontakt mit der Shakarchi Trading AG in Zürich. Im Verwaltungsrat saß der prominente Anwalt Hans Kopp. Seine Frau Elisabeth gehörte dem Bundesrat in Bern an, sie war Schweizer Justiz- und Polizeiministerin. 1988 wurden die Armenier verhaftet; man warf ihnen vor, Drogengelder gewaschen zu haben. Auch die Firma Shakarchi geriet in Verdacht. Von seiner Frau heimlich gewarnt, legte Kopp im Oktober den Posten nieder.
Nun schossen sich die Medien auf Elisabeth Kopp ein. Sie machte unrichtige Angaben; am 12. Januar 1989 trat sie von ihrem Ministeramt zurück. Am 31. Januar konstituierte sich in Bern eine Parlamentarische Untersuchungskommission, um die Vorgänge zu durchleuchten. Ihr Präsident Moritz Leuenberger war Sozialdemokrat und Mitglied des Nationalrats, des Schweizer Gegenstücks zum deutschen Bundestag. Der Abschlussbericht der Kommission lag am 22. November 1989 vor. Zwei Tage später fand eine große Pressekonferenz statt.
Im Mittelpunkt standen aber nicht die Kopps, sondern die Bundespolizei und die Abteilung politische Polizei. Sie entspricht dem deutschen Verfassungsschutz. Im Abschlussbericht hieß es zum Schweizer Geheimdienst: „Die Rapporte und Beilagen werden in Dossiers abgelegt und die wesentlichsten Erkenntnisse im Sinne einer Registratur auf einer nach Personen, Organisationen oder Ereignissen geführten Kontrollkarte (Fiche) festgehalten. Die zentrale Registratur der politischen Polizei enthält rund 900.000 Karten.“ (PDF-Seite 174)
Zwei Drittel erfassten Ausländer; die übrigen bezogen sich zur Hälfte auf Schweizer Bürger und auf Organisationen oder Ereignisse. Verkartet waren 750.000 Personen; das entsprach zehn Prozent der Einwohner. Der rechtsliberale Zürcher Politiker Ernst Cincera baute in den 1970er-Jahren ein privates Geheimarchiv auf, doch es zählte nur 3.500 Einträge. Von den Fichen der Bundespolizei hatte ein kleiner Kreis gewusst, darunter auch Moritz Leuenberger. Ihre Ursprünge gingen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück.
Die Kartothek enthielt die üblichen Verdächtigen wie Linke, Alternative, Demonstranten, Gewerkschaftler oder Menschen, die allzuoft in die Länder des Ostblocks reisten. Neben Parlamentariern nahm die Sammlung prominente Literaten auf. Das Dossier von Max Frisch besitzt 13 Karten und reicht von 1948 bis 1990. Der Autor starb am 4. April 1991. Seine Abrechnung mit der Schweizer Polizei, Ignoranz als Staatsschutz?, konnte er nicht mehr vollenden. Das Manuskript erschien 2015 in seinem deutschen Verlag.
Eine Aufnahme in die Berner Kartei konnte für Betroffene durchaus negative Folgen haben; die Staatsschützer gaben Daten bereitwillig an einen Arbeitgeber oder an die Kollegen von der Fremdenpolizei. In den Fichen fanden sich aber nicht nur ignorante oder fehlerhafte Einträge, sondern ebenso Banalitäten und unfreiwillige Komik. Nicht vergessen werden darf, dass die Schweizer Bundespolizei weniger als hundert Leute beschäftigte; 1989 hatte das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz 2.400 Mitarbeiter.
Auf den Bericht vom November 1989 folgte schon im Mai 1990 ein Ergänzungsbericht. Enthüllt wurden außerdem die Geheimtruppe P-26 und der ganz geheime Geheimdienst P-27. Die skandalösen Fichen gelangten ins Schweizerische Bundesarchiv und können auf Antrag eingehen werden – mit gelegentlichen Schwärzungen. Der Inlandsgeheimdienst wurde umorganisiert. An die Stelle der Pappkarten trat das Staatsschutz-Informations-Systems ISIS. An die wilden Neunziger erinnern noch die Ausgaben des Fichenfritz.
Von den beiden Auslösern der Fichenaffäre lebt noch Elisabeth Kopp; ihr Ehemann Hans starb 2009. Moritz Leuenberger, der Präsident der Untersuchungskommission, gehörte von 1995 bis 2010 der Schweizer Regierung an.