Eine schicksalhafte Begegnung
Geschrieben am 13.06.2016 von HNF
Vor 75 Jahren, vom 13. bis 18. Juni 1941, war der Physiker John Mauchly zu Gast bei seinem Kollegen John Atanasoff in einem College im US-Bundesstaat Iowa. Der 37-jährige Atanasoff hatte einen Spezialrechner mit Röhren erfunden. Mauchly, 33 Jahre alt, baute später das Elektronengehirn ENIAC. Das Treffen der Forscher sollte Folgen für die Computergeschichte haben.
Der Bundesstaat Iowa liegt im Mittleren Westen der USA zwischen dem Missouri und dem Mississippi. Im Jahr 1941, in dem unserer Geschichte beginnt, hatte er 2,5 Millionen Einwohner, die vor allem von der Landwirtschaft lebten. Das Aufregendste im „corn state“ waren die regelmäßigen Tornados und die Spiele des Football-Teams der Staatsuniversität, der Cyclones (vgl. Tornados).
Die Uni hieß damals noch Iowa State College und befand sich in der Kleinstadt Ames. Zu den Dozenten zählte John Atanasoff, Sohn eines bulgarischen Einwanderers. Geboren 1903 im Bundesstaat New York, wuchs er in Florida auf. Mit neun erhielt er seinen ersten Rechenstab, und das Dualsystem war ihm früh vertraut. In Ames, wo er Mathematik und Physik lehrte, setzte er IBM-Lochkartenmaschinen für wissenschaftliche Berechnungen ein und baute sich einen kleinen Analogrechner.
Ende 1937 traf John Atanasoff ein Geistesblitz und führte ihn zurück in die digitale Welt. Bei einer Autofahrt in den Nachbarstaat Wisconsin kam er auf die Idee eines elektrisch-elektronischen Geräts, das mit Dualzahlen arbeitete und lineare Gleichungssysteme löste. Das sind die aus der Mathestunde bekannten zwei, drei oder mehr Gleichungen mit ebenso vielen Unbekannten. Sie lassen sich mit einem von Carl Friedrich Gauß ersonnenen Verfahren finden, das Zeit, Papier und Nerven kostet.
Im Frühjahr 1939 erhielt Atanasoff 650 Dollar vom College, um seine Idee an einem kleinen Modell zu testen. Es wurde vom Technikstudenten Clifford Berry in sieben Wochen gebaut und funktionierte. Die Folge waren zwei weitere Zuschüsse, sodass Atanasoff und Berry 1940 eine schreibtischgroße Anlage konstruieren konnten. Der namenlose Rechner – der Titel „Atanasoff-Berry-Computer“ oder ABC wurde erst 1966 eingeführt – bearbeitete Systeme mit bis zu 29 linearen Gleichungen.
Im Rechner rotierten einmal pro Sekunde zwei nebeneinander montierte Zylinder. In jedem steckten 1.600 Kondensatoren, die 30 Dualzahlen der Länge 50 bit speicherten. Das Einschreiben, Auffrischen und Auslesen der Daten sowie Addition und Subtraktion steuerten 311 Elektronenröhren. Ein weiterer Zylinder konvertierte Dezimal- in Dualzahlen. Zahlen wurden mit normalen Lochkarten eingegeben und mit elektrisch gelochtem Papier zwischengespeichert. Eine Programmsteuerung fehlte, die Bedienung erfolgte im Wesentlichen von Hand, siehe das Foto mit Clifford Berry am Ende unseres Beitrags.
Bei einer wissenschaftlichen Tagung im Dezember 1940 in Philadelphia kam es zum ersten Treffen von John Atanasoff und dem 33-jährigen John Mauchly, der gleichfalls Physiker war. Er unterrichtete an einem College in der Nähe. Beide Männer entdeckten schnell ihr gemeinsames Interesse fürs Rechnen. Mauchly hatte wie sein Kollege einen Analogrechner gebaut, war aber unzufrieden damit. Als Atanasoff ihm von seinem Digitalrechner erzählte und nach Ames einlud, nahm er begeistert an.
Es dauerte noch eine Weile mit der Reise, doch am Freitag, dem 13. Juni 1941, klopfte Mauchly abends bei John Atanasoff an. Er brachte seinen sechs Jahre alten Sohn mit; da die Atanasoffs drei Kinder hatten, dürfte er eine schöne Zeit gehabt haben. Mauchly und Sohn blieben bis Mittwochfrüh, und der Physiker von der Ostküste erfuhr viele Details von Atanasoffs Rechner. Er erlebte eine Vorführung, konnte sich Notizen machen und die 35 Seiten lange technische Beschreibung studieren.
Die beiden Forscher sahen sich 1943 und 1944 noch einige Male in Washington. John Atanasoff arbeitete von 1942 bis 1952 für die US-Marine und danach in zwei eigenen Firmen. 1981 setzte er sich zur Ruhe; er starb 1995. John Mauchly entwickelte mit John Presper Eckert den programmgesteuerten Elektronenrechner ENIAC. 1947 gründeten die beiden eine Computerfirma, die 1950 von Remington geschluckt wurde. Mauchly wirkte aber bis zu seinem Tod im Jahre 1980 in der IT-Branche.
Eine von Atanasoff angestrebte Patentierung seines Rechners wurde vom College verschlampt und der Rechner verschrottet. Er wäre völlig in Vergessenheit geraten, hätten nicht Eckert und Mauchly 1947 ein Patent für ihren ENIAC angemeldet. Dieses wurde 1964 gewährt und führten drei Jahre später zu einem riesigen Rechtsstreit im US-Bundesstaat Minnesota. Dabei verlangte der Computerhersteller Honeywell die Löschung des ENIAC-Patents, das mittlerweile der IT-Firma Sperry Rand gehörte.
Der Prozess endete 1973, und Sperry Rand verlor ihn mit Pauken und Trompeten. Das Patent für den ENIAC wurde für ungültig erklärt. Eine von mehreren Urteilsbegründungen lautete, dass John Mauchly und John Presper Eckert die Idee des „automatischen elektronischen Computers“ von John Atanasoff übernommen hätten. Die Anwälte der streitenden Firmen hatten Atanasoff und Mauchly tagelang als Zeugen befragt, vor allem über das Treffen im Juni des Jahres 1941.
Heute wird John Atanasoff von seiner alten Hochschule als Vates des Computers geehrt. Das Gebäude, wo sein Rechner stand, gilt als Geburtsstätte. 1997 fertigte die Uni einen Nachbau an, der als Leihgabe im Computer History Museum in Kalifornien steht. Anhand eines Videos, das ihn in Aktion zeigt, mag jeder Leser selbst entscheiden, ob der ABC tatsächlich der erste Computer der Welt war. Hier ist Atanasoff im Film zu sehen und hier Mauchly.
Auch die Bulgaren würdigen Джон Атанасов als Computerpionier und errichteten ihm ein Denkmal in der Hauptstadt Sofia. Unser Eingangsbild führt John Atanasoff (rechts) und John Mauchly (links) mit zwei Fotos aus den 1940er-Jahren zusammen; sie stammen aus der Sammlung des Computer History Museum. Ob sich die beiden später noch einmal trafen und über die Begegnung von 1941 aussprachen, ist unbekannt.
Clifford Berry am Atanasoff-Berry-Computer. (Foto Computer History Museum)