Eureka – 175 Jahre automatische Poesie
Geschrieben am 21.08.2020 von HNF
Im Sommer 1845 konnten Einwohner und Besucher von London eine dichtende Maschine erleben. Die Eureka produzierte lateinische Sätze aus sechs Worten. Sie wurden in sechs schmalen Fenstern angezeigt. Schöpfer der Maschine war der Drucker John Clark aus dem südwestenglischen Bridgwater. Die Eureka gibt es noch; sie ist das älteste Gerät, das automatisch sinnvolle Texte erzeugt.
Die erste dichtende Maschine ist nur in einigen Druckzeilen überliefert: „Ein gewisser Herr M. in Göttingen rühmt sich eine poetische Handmühle erfunden zu haben, durch welche man Oden von aller Gattung ganz mechanisch verfertigen könnte. … Die Einrichtung der Maschine hat viele Aehnlichkeit mit einer großen englischen Seidenzwirnmühle; die Kraft, die sie in Bewegung setzt, ist der Wind.“ Das schrieb am 30. Juli 1777 die „Hessen-Darmstädtische privilegirte Land-Zeitung“ in ihrer Rubrik Allerhand.
Mehr wissen wir über die zweite Poesiemaschine der Technikgeschichte. Sie hieß Eureka und arbeiterte 1845 in der Ägyptischen Halle in London. Das 1812 an der Straße Picadilly errichtete Gebäude beherbergte Wechselausstellungen aller Art. Die Eureka wurde ab Mitte Juni vorgeführt; sie war aus Holz und so groß wie ein Schreibschrank. Nach Zahlung eines Schillings – der entsprach fünf heutigen Euros – konnte man die Maschine in Gang setzen. Nach heftigem Rasseln zeigte sie einen korrekt formulierten lateinischen Satz an.
Er bestand aus sechs Worten, die nebeneinander in sechs schmalen Fenstern erschienen. Jedes Wort setzte sich aus einzelnen Buchstabenfeldern zusammen. Jeder Satz war nach dem gleichen Schema aufgebaut. Auf ein Adjektiv und ein Substantiv folgten ein Adverb und ein Verb. Den Schluss bildeten ein Substantiv und ein Adjektiv. Laut gelesen, lieferten die Worte einen Hexameter, einen klassischen antiken Vers. Sie blieben eine Minute hinter ihren Schlitzen sichtbar, dann rasselte es erneut, und die Buchstaben verschwanden.
Beispiel: BARBARA FRENA DOMI PROMITTUNT FOEDERA MALA. Zu Deutsch: Barbarische Zügel (oder Regierungen) zuhause versprechen schlechte Bündnisse. Die Eureka war ein mechanischer Zufallsgenerator und besaß sechs Zylinder, auf denen Reihen von kürzeren und längeren Stangen saßen. Jede Reihe codierte ein Wort. Zu Beginn wurden durch Drehen der Zylinder sechs Stangenreihen ausgewählt. Sie verschoben sechs Gruppen vertikaler Stäbe; jeder trug die Buchstaben von A bis Z. Am Ende ergab sich der erwähnte Vers.
Erfunden hatte alles der 1785 in Greinton geborene John Clark; das Dorf liegt im Südwesten Englands. Später lebte er im benachbarten Ort Bridgwater. Clark besaß erst einen Laden und dann eine Druckerei. 1830 begann er mit der Arbeit an seinem Poesieautomaten. Im Prinzip ist ein solches Gerät leicht zu bauen. Man nimmt mehrere Walzen, notiert darauf Worte und setzt sie nebeneinander. Nun müssen sie noch rotieren wie die Räder eines Einarmigen Banditen in Las Vegas. Nach dem Abstoppen lässt sich auf den Walzen ein Satz ablesen.
Aber warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? John Clark widmete dreizehn Jahre dem Bau der Eureka und schrieb ein Buch über sie. Die gute Nachricht ist, dass seine Maschine viele Neugierige anlockte und eine Menge Eintrittsgeld in die Kasse kam. Clark starb 1853; die Eureka erbten seine Vettern Cyrus und James. Ihnen gehörte im Nachbarort Street eine Schuhfabrik, die zur Weltfirma Clarks wurde. 1950 und 1970 erfolgten Restaurierungen, in den 1980er- und 1990er-Jahren stand der Automat im Firmenmuseum.
2015 und 2016 machten Forscher der Universität von Exeter ihn wieder funktionstüchtig. Mittlerweile befindet er sich in einem Ausstellungsraum des Alfred Gillett Trust in Street. Hier geht es zu einem Film über die letzte Restaurierung der Maschine und hier zu einem Informationsblatt. Die Universität von Exeter installierte ein Programm im Netz, das die Leitungen des Automaten reproduziert. Bei jedem Aufruf der virtuellen Eureka wird ein neuer Hexameter mit Worten von 1845 ausgegeben.
Nach dem gleichen Prinzip operieren die LoveLetters von David Link. Der Düsseldorfer Medienkünstler simulierte mit ihnen einen Computer, der 1953 in Manchester sinnvolle Texte schuf. Links Installation war 2012 im HNF zu sehen. 1959 schrieb Theo Lutz, der in Stuttgart studierte, das erste Gedichtprogramm der Welt; es lief auf einer Zuse Z22. Es arbeitete ähnlich wie die Eureka mit Satzmustern, in die ausgewählte Worte eingesetzt wurden, und produzierte eine Folge abgeschlossener Zeilen. Das ist ein Textbeispiel.
Seitdem erschienen noch viele andere Lyrikprogramme; heute gehören sie zur Künstlichen Intelligenz. Auch der Hausdichter des HNF Hans Magnus Enzensberger brachte eines zu Papier. Sein Landsberger Poesieautomat wurde im Jahr 2000 fertig. Er enthält mechanische Buchstaben, wie man sie von Bahnhof- oder Flughafenanzeigen kennt – das hätte selbst John Clark verstanden. Zitat gefällig? „Die eiserne Stechuhr sagt mehr über uns als die Vernunft. Neuerdings dichten wir eben.“
Unser Eingangsbild bringt die fiktive Textmaschine aus dem Roman Gullivers Reisen, bitte etwas scrollen. Gezeichnet hat sie der französische Illustrator Grandville. We also thank the Alfred Gillett Trust for the permission to use the photos.