Evelyn Berezin und die Textverarbeitung
Geschrieben am 17.12.2019 von HNF
2019 blickten wir einige Male ein halbes Jahrhundert zurück. Es gab Jubiläen der Chipfirma AMD, der Mondlandung und des Internets. Heute feiern wir noch einmal einen fünfzigsten Jahrestag. Am 30. Juli 1969 wurde die Redactron Corporation gegründet; im Dezember bezog sie ihre Büros bei New York. Es war die erste Computerfirma, die eine Frau leitete.
Am Anfang steht mal wieder IBM. Die Firma verkaufte und vermietete ab 1964 die MB 72, eine Kombination aus Kugelkopf-Schreibmaschine und Magnetband-Laufwerk. Big Blue lieferte den Ausdruck Textverarbeitung mit, eine Schöpfung des deutschen IBM-Mitarbeiters Ulrich Steinhilper. Die MB 72 speicherte pro Band zwölf Seiten und tippte sie nach der Eingabe automatisch. Die User und Userinnen konnten auch Textblöcke verschieben und Serienbriefe produzieren.
1971 war die speichernde Schreibmaschine der IBM nicht mehr die einzige im Lande. Ab September des Jahres wurde auf der Insel Long Island östlich von New York die „Data Secretary“ gefertigt; sie kam von der Redactron Corporation. Die Firma setzte kurz vor Weihnachten 1971 eine feministisch angehauchte Anzeige in die Presse. Die Überschrift lautete frei übersetzt Schreibkräfte können wieder hoffen. Der Text lobte das Produkt und bot dazu kostenlose Buttons und Aufkleber mit dem Spruch „Befreit die Sekretärin“ an.
Die Befreierin hieß Evelyn Berezin und wurde am 12. April 1925 in New York geboren. Ihre Eltern waren Immigranten aus Russland, ihr Vater arbeitete als Kürschner. Die Lektüre von Science-Fiction-Magazinen weckte das Interesse des Mädchens für Naturwissenschaften. Evelyn durchlief die High School in Rekordzeit und besuchte mit fünfzehn das College. Zunächst studierte sie Volkswirtschaft; nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg absolvierte sie an drei Hochschulen Abendkurse für Physik und Mathematik. Tagsüber musste sie ihren Lebensunterhalt verdienen.
1946 machte sie den Bachelor in Physik. Danach erhielt sie ein Stipendium und studierte bis 1951 an der New York University. Sie fand anschließend eine Stelle in der neu gegründeten Electronic Computer Corporation. Ab 1957 arbeitete sie für die Firma Teleregister im US-Bundesstaat Connecticut. Hier entwickelte sie unter anderem ein Reservierungssystem für eine Fluggesellschaft; es basierte schon auf Transistoren. In den 1960er-Jahren bewarb sie sich bei der New Yorker Börse, doch die wollte keine Frau in den Handelssaal lassen.
Evelyn Berezin ging dann zur Digitronics Corporation, die diverse Peripheriegeräte und Spezialrechner fertigte. Sie erkannte, dass ihr überall der Aufstieg in die Chefetage verwehrt sein würde. Es blieb nur ein Weg: sie musste selbst ein Unternehmen starten. Das geschah am 30. Juli 1969 mit der Gründung der Redactron Corporation im US-Staat Delaware. Im Dezember bezog die junge Firma ein Gebäude in einem Industriegebiet auf Long Island. Die Insel erstreckt sich östlich von New York 190 Kilometer in den Atlantik hinein.
Ziel von Redactron war die Entwicklung, Fertigung und Vermarktung eines Textcomputers, auf Englisch „automatic editing typewriter system“. Als Vorbild dienten IBMs Magnetband-Schreibmaschine und die 1969 erschienene Nachfolgerin, die Magnetkarten nutzte. Bei der Hardware setzte Evelyn Berezin auf Mikrochips. Ihr Computer erhielt dreizehn von ihnen; sie kamen von den Halbleiterfirmen General Instrument und Standard Microsystems sowie von Redactron selbst. Als Speicher fungierten Magnetkarten und Kompaktkassetten.
Finanzielle Förderung erhielt Evelyn Berezin aus dem Bekanntenkreis. Insgesamt flossen 1.250.000 Dollar Risikokapital in ihre Firma, was damals viel Geld war. Das Redactron-Team beeilte sich beim Entwickeln. Das erste Modell wurde im September 1971 ausgeliefert. In den folgenden zwölf Monaten entstanden tausend Textsysteme. Im Handel kosteten sie zwischen 6.400 und 8.200 Dollar, die Monatsmiete lag zwischen 176 und 278 Dollar. Eine ganze Anzahl nahm der Konzern Sperry Rand ab, der sie mit eigenem Label weiterverkaufte.
1972 ging Redactron an die Börse. Mitte der 1970er-Jahre hatte die Firma 500 Mitarbeiter und setzte rund sechzehn Millionen Dollar um. Hinter IBM war sie der zweitgrößte Anbieter von Textverarbeitungstechnik. Gewinn machte sie aber nicht. Infolgedessen wurde sie im Januar 1976 vom Computerbauer Burroughs übernommen. Wenig später erlebte auf der Hannover-Messe das nächste Redactron-Produkt seine Premiere. Der Redactor II brachte ein völlig neues Design und einen Monitor mit. Bei uns reichte der Verkaufspreis von 29.000 bis 35.000 DM.
Bald darauf war aber Schluss. Burroughs änderte die interne Programmierung des Computers und machte ihn unnötig langsam. Er verschwand vom Markt wie später alle anderen reinen Textsysteme; an ihre Stelle traten PCs. Evelyn Berezin leitete von 1980 bis 1987 eine Firma für Risikokapital, danach arbeitete sie als freie Beraterin. 2015 erntete sie ihre wichtigste Auszeichnung: sie wurde Fellow des Computer History Museums. Ihm verdanken wir auch unser Eingangsbild der jung gebliebenen Neunzigjährigen.
Evelyn Berezin starb am 8. Dezember 2018. Sie war wohl die erste Frau, die an der Spitze eines Computerherstellers stand. Einige Jahre vor dem Start von Redactron betrieb die 1933 in Dortmund geborene Stephanie Shirley in England ein Softwarehaus. Vergessen sollten wir auch nicht Ilse Müller, die mit ihrem Mann Otto 1972 die Firma Computertechnik Müller aus der Taufe hob. Sie ist leider im Mai mit achtzig Jahren gestorben. Schließen möchten wir mit IBM: Big Blue wird schon seit 2012 von einer Frau – Virginia Rometty – angeführt.
Wahrscheinlich die erste weibliche Führungskraft in der Datenverarbeitung dürfte Maria von Wedemeyer-Welser (1924-77) gewesen sein, die Verlobte von Dietrich Bonhoeffer. Nach dem Examen (Master of Arts in Mathematics 1950 in Bryn Mawr) startete W. noch im gleichen Jahr ihre erfolgreiche Karriere in der Datenverarbeitung. Sie arbeitete zunächst als Statistikerin bei der American Pulley Company, einem Hersteller von Flaschenzügen in Philadelphia, dann ab 1952 am gleichen Ort in der Computerbranche bei Remington Rand Univac. Nach vier Jahren bereits war W. Gruppenleiterin für “Angewandte Mathematik”. Nach familiärer Pause – im Alter von 40 Jahren- heuerte sie bei Honeywell in Boston an und wurde Leiterin des Bereichs „System Analysis“. Sie war die erste Frau, die bei Honeywell in die Führungsebene aufstieg und war Chefin von 200 Programmierern. Mit Ihrer Arbeit als Ingenieurin auf dem Gebiet der Minicomputer war sie insbesondere international führend auf dem Gebiet der „Emulation capability“. Der Honeywell H200- Rechner wurde z.B. mit einem Emulator ausgeliefert, der es ermöglichte, die IBM 1401 Software ohne Konvertierung ablaufen zu lassen.