Herr Leibniz und seine Binäruhr

Geschrieben am 04.07.2023 von

Der 1. Juli war der Geburtstag des großen Gelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz. Er kam 1646 zur Welt; wir verdanken ihm unter anderem die Rechenmaschine mit Staffelwalzen und das Operieren mit Dualzahlen. In seinen Papieren lässt sich noch immer manches entdecken. So fand der englische Leibniz-Forscher Lloyd Strickland ein Konzept für eine Taschenuhr mit binären Ziffern.

Gottfried Wilhelm Leibniz hat das Dualsystem nicht erfunden, der spanische Kirchenmann Juan Caramuel schilderte es schon 1670 in einem Buch. Der deutsche Gelehrte beschrieb aber ausführlich das Rechnen mit 0 und 1 und erfand dafür ein Rechengerät. Er grübelte auch darüber nach, wie man das Dualsystem popularisieren könnte.

1697 entwarf Leibniz für den Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel eine Medaille mit Dualzahlen. Etwas später kam ihm eine andere Idee: eine Taschenuhr mit einem binärem Zifferblatt. Dieses umfasste Nullen und Einsen, die nicht aufgemalt, sondern in Form von Flachstellen und Erhöhungen auf der Vorderseite dargestellt wurden. Die Uhr ließ sich gut im Dunkeln nutzen, da man die Position des Zeigers durch Betasten herausfinden konnte. Wie so viele seiner Erfindungen hat Leibniz die Binäruhr nicht publiziert.

Die Leibniz-Uhr: Die Uhrzeit wird durch die „Puncte“ hinter dem Zeiger ausgedrückt. (Foto Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Niedersächsische Landesbibliothek)

1889 beschrieb Eduard Bodemann den Briefwechsel von Leibniz, der in der Königlichen öffentlichen Bibliothek in Hannover einsehbar war. Auf Seite 333 des Buchs vermerkte er ein Concept, das wie folgt begann: „Der Gebrauch der Bimal-Rechnung (Dyadik) kann unter anderm dienen, die Zahlen an der Uhr zu fühlen, u. zwar des Nachts oder in der Tasche, wenn man wissen will, worauf der Zeiger stehet…“  Viel mehr zitierte er nicht, und da es 1889 weder Computer noch Digitaluhren gab, erregte die Stelle kein Aufsehen.

Etwas genauer schaute aber Lloyd Strickland hin. Er lehrt Philosophie in der Manchester Metropolitan University, der zweiten Hochschule der Stadt neben der Universität, wo einst Alan Turing arbeitete. Zusammen mit Harry Lewis, Informatik-Professor in der Universität Harvard, gab er 2022 den Sammelband Leibniz on Binary heraus; er enthält 32 Schriften des Denkers zum Dualsystem. Nach Abschluss des Buchs stieß Strickland auf einen 33. Text, den er nicht mehr aufnehmen konnte. Es war das Konzept der fühlbaren Uhr.

Strickland veröffentlichte seinen Fund dann im Internet. Das dazugehörige Leibniz-Papier ist ebenfalls online; unser Eingangsbild oben zeigt einen Ausschnitt. Das Original verwahrt die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover; die Signatur lautet Lbr. 916 und die Blattnummer 44r. Lloyd Strickland ließ zum Glück den handschriftlichen Text transkribieren. Es folgen nun die Ausführungen von Leibniz in lesbarer Form. Einen „hohlen Punct“ bezeichnen wir mit o, einen „buckligen Punct“ mit +.

Die Rückseite der Uhrenbeschreibung mit Dualzahlen und I-Ging-Symbolen (Foto Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Niedersächsische Landesbibliothek)

„Der Gebrauch der Bimal rechnung kan unter andern dienen die Zahlen zu fühlen und zwar an der Uhr des nachts oder in der tasche wenn man wissen will worauff der zeiger stehet, und nicht zu sehen kan oder will.   a o ist o, und b o ist o und c, o ist 4, und d, o ist 8   die hohle Puncte sollen bedeuten o, und die buckligen Puncte bedeuten Eins wenn sie auff der ersten Stelle, 2 auff der andern, 4 auff der dritten, 8 auff der vierdten gesezt.“ Der Satz „a o ist o…“ erklärt die Punkte in der Uhren-Zeichnung über der auf dem Kopf stehenden 6.

„nun mann wolle fühlen worauff der Zeiger weise, und selbiger weise fast auff 12. So fahre ich von der Spize derselben nach dem centro zu und weiter über das Centrum herab, und finde darunter die mit a, b, c, d gezeichnete 4 Puncte, a o / b o / c + / d + , so bedeuten 12. Die erste beyde mit a und b auffm papier bezeichnete sind beyde 0, weil sie hohl. Der dritte punct c ist bucklich gilt 4 weil er auff der dritten stelle, der vierdte d ist auch Bucklich gilt 8 weil er auff der vierdten stelle. Nun 4 und 8 macht 12.“

Die Leibnizsche Uhr führt alle zwölf Stunden eine volle Drehung aus. Zum Ablesen der Zeit muss man den Zeiger finden und die hinter ihm befindlichen Wölbungen ertasten. Diese sind die buckligen Punkte, eine fehlende Wölbung ist ein hohler Punkt. In der Zeichnung deutet der Zeiger – da glauben wir einmal Herrn Leibniz – auf beinahe 12 Uhr. Verlängert man ihn rückwärts, landet man bei der Dualzahl  ++oo  mit zwei fühlbaren Hügelchen oder 12 in dezimaler Schreibweise. Bitte beachten, dass weiter außen liegende Wölbungen einen größeren Stellenwert besitzen.

Leibniz-Artikel von 1703 über das binäre Zahlensystem: Die Zahlenliste links erinnert an die aus der Handschrift zur Uhr.

Den Ausdruck „Bimal rechnung“ hat Gottfried Wilhelm Leibniz nur selten verwendet. Das lateinische „bimaliter“ – bimal ausgedrückt – steht in einer Notiz aus dem Jahr 1679. Das Wort „bimal“ schuf Leibniz offenbar als Gegenstück zu „dezimal“. Bekannter wurden später die Bezeichnungen „Arithmetica dyadica“, „Arithmétique binaire“ – auf diese kommen wir noch zu sprechen – und „Dyadik“. Das „Dualsystem“ ist in der deutschen Sprache erst im späten 19. Jahrhundert belegt.

Es bleibt eine offene Frage: Wann schrieb Leibniz die Ideen zur binären Uhr nieder? Das Papier Lbr. 916 44r wurde in der Korrespondenz mit Gottfried Teuber (1656-1731) abgelegt. Er war Hofprediger im sachsen-anhaltinischen Ort Zeitz, wo die Herzöge von Sachsen-Zeitz residierten. Teuber hatte Mathematik studiert, und Leibniz beauftragte ihn 1711, seine Rechenmaschine zu vollenden, von der zwei Modelle vorlagen. Daraus wurde aber nichts. Ein Modell, die „jüngere Maschine“, nahm Leibniz kurz vor seinem Tod wieder mit, das andere, die „ältere Maschine“, ist verschollen.

Wahrscheinlich hat das Papier nichts mit Teuber zu tun. Seine Rückseite enthält eine Liste von Dualzahlen, die ganz ähnlich in der Explication de l’arithmétique binaire erscheinen; den Artikel schrieb Leibniz 1703. Wir entdecken daneben die Zeichen des chinesischen Orakels I Ging, das er als einen Verwandten des Dualsystems ansah. Acht I-Ging-Trigramme stehen auch im Aufsatz von 1703. Es ist also anzunehmen, dass Leibniz die binäre Uhr zu jener Zeit erdachte und dass sein Text irrtümlich in den Teuber-Briefwechsel geriet.

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Ein Kommentar auf “Herr Leibniz und seine Binäruhr”

  1. Herbert Bruderer sagt:

    Eine kleine Ergänzung zu diesem lehrreichen Beitrag:
    The Binary System Was Created Long Before Leibniz | blog@CACM | Communications of the ACM

    Ausführliche Angaben zu den Rechenmaschinen von Leibniz finden Sie u.a. in:

    Bruderer, Herbert: Meilensteine der Rechentechnik, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston, 3. Auflage 2020, Band 1, 970 Seiten, 577 Abbildungen, 114 Tabellen, https://www.degruyter.com/view/title/567028?rskey=xoRERF&result=7

    Bruderer, Herbert: Meilensteine der Rechentechnik, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston, 3. Auflage 2020, Band 2, 1055 Seiten, 138 Abbildungen, 37 Tabellen, https://www.degruyter.com/view/title/567221?rskey=A8Y4Gb&result=4

    Bruderer, Herbert: Milestones in Analog and Digital Computing, Springer Nature Switzerland AG, Cham, 3rd edition 2020, 2 volumes, 2113 pages, 715 illustrations, 151 tables, translated from the German by John McMinn, https://www.springer.com/de/book/9783030409739

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