Leonhard Euler und die Moral der Automaten

Geschrieben am 14.04.2023 von

Von 1760 bis 1762 sandte der Mathematiker Leonhard Euler 234 Briefe an die Markgräfin Friederike Charlotte von Brandenburg-Schwedt. Sie behandelten vor allem Philosophie und Physik; ab 1768 wurden sie publiziert. Im 86. Brief beschrieb Euler eine Straftat, bei der ein Automat eine Uhr stibitzt. Damit diskutierte er zum ersten Mal ethische Probleme der Künstlichen Intelligenz.

Leonhard Euler wurde am 15. April 1707 als Sohn eines Pastors in Basel geboren. Noch als Teenager studierte er Theologie, alte Sprachen, Physik und Mathematik. Von 1727 bis 1741 arbeitete er in Sankt Petersburg für die Kaiserlich Russische Akademie der Wissenschaften, danach für die Königlich Preußische in Berlin. 1766 zog er erneut nach Sankt Petersburg. 1771 erblindete er vollständig, was ihn aber nicht an seinen Forschungen hinderte. Er starb am 18. September 1783.

Euler zählte zu den größten und produktivsten Mathematikern aller Zeiten; er widmete sich auch der Physik und Musiktheorie. In seiner Berliner Zeit schrieb er ab dem 19. April 1760 Briefe in französischer Sprache an eine junge Adelige. Markgräfin Friederike Charlotte von Brandenburg-Schwedt wurde am 18. August 1745 geboren und am preußischen Hof erzogen. Die Briefe behandelten Themen aus der Physik und Astronomie, Theologie und Philosophie sowie Logik und Musik. Den 234. und letzten verschickte Euler im Mai 1762.

Leonhard Euler in den 1750er-Jahren, gemalt von Jakob Emanuel Handmann

Friederike Charlotte war entfernt mit dem preußischen König verwandt. Als Eulers Briefe ab 1768 in Sankt Petersburg in Druck erschienen, trugen sie den Titel Lettres à une princesse d’Allemagne. Sie wurden ein Meilenstein der Populärwissenschaft und ein europaweiter Erfolg. 1769 kam in Leipzig die Übersetzung Briefe an eine deutsche Prinzessinn (mit zwei „n“) heraus. Wir möchten nur einen Brief betrachten, Nummer 86 vom 20. Dezember 1760. Es geht darin um einen Automaten; der französische Text spricht von einer „marionette“.

Leonhard Euler wusste sicher von den menschenähnlichen Automaten des französischen Ingenieurs Jacques de Vaucanson. Vielleicht erfuhr er auch von der „allesschreibenden Wundermaschine“, die der schwäbische Mechanikus Friedrich von Knauss 1760 in Wien schuf. Sie ließ sich für jede beliebige Wortfolge programmieren, vorausgesetzt, sie enthielt maximal 68 Buchstaben. Es folgt nun ein Auszug aus Brief Nr. 86, der sich an der Leipziger Ausgabe von 1769 orientiert. Das Wort „esprit“ haben wir mit „Bewusstsein“ übersetzt.

Markgräfin Friederike Charlotte im Alter von 22 Jahren

„Stellen sich Eure Hoheit einen Automaten vor, der durch Räder und Triebfedern so kunstvoll eingerichtet wurde, dass er sich meiner Tasche nähert und die Uhr wegnimmt, ohne dass ich es merke. Da diese Handlung eine notwendige Folge vom Bau der Maschine ist, kann sie kein Diebstahl sein, und ich würde mich lächerlich machen, wenn ich mich ärgern würde und die Maschine aufhängen lassen wollte. Alle Welt würde sagen, dass der Automat unschuldig und keiner strafbaren Handlung fähig wäre, und der Maschine wäre es egal, ob sie gehenkt oder auf einen Thron gesetzt würde.

Wenn aber der Urheber diese Maschine erbaut hätte, um Leute zu bestehlen und ihn durch solche Diebstähle zu bereichern, so würde ich die Geschicklichkeit des Konstrukteurs bewundern, hätte aber auch das Recht, ihn wegen Diebstahl bei der Justiz anzuzeigen. Es folgt also, dass […] das Verbrechen auf ein intelligentes Wesen oder ein Bewusstsein zurückfallen würde und dass allein ein Bewusstsein für seine Handlungen verantwortlich ist.“ Oder im Original: que les esprits seuls sont responsables de leurs actions.

Leonhard Eulers Gedankenexperiment im französischen Original

Der Text beschrieb ein Gedankenexperiment, denn die Feinmechanik war noch lange nicht so weit. Roboter, die umher rollten und die Finger bewegten, gab es erst 1938 in Gestalt des amerikanischen Elektro und des Schweizer Sabor. Der erste mobile und autonome Automat mit Greifhänden, der japanische Wabot-1, wurde 1970 entwickelt. Euler erkannte aber ein Problem, das uns heute in der Künstlichen Intelligenz beschäftigt. Wen trifft zum Beispiel die Schuld, wenn ein selbstfahrendes Auto einen Unfall baut und Schäden verursacht?

Für den Mathematiker wäre es klar: nicht das Auto, sondern der oder die Programmierer des Bordcomputers. Denn nur Menschen können für die Fehltritte eines technischen Systems die Verantwortung tragen. Alle weiteren Diskussionen möchten wir den Juristen überlassen und lieber noch einmal auf Eulers Briefpartnerin eingehen.

Friederike Charlotte verbrachte die Jahre von 1764 bis 1802 als Äbtissin des Damenstifts Herford fünfzig Kilometer nördlich von Paderborn. Die napoleonischen Kriege vertrieben sie aus Ostwestfalen. Sie starb am 23. Januar 1808 im damals dänischen Altona, ihr Grab befindet sich aber in Herford.

Unser Eingangsbild zeigt die Hackbrett-Spielerin des Musée des Arts et Métiers Paris (Foto Jean-Pierre Dalbéra CC BY 2.0 seitlich beschnitten). Der Feinmechaniker Peter Kinzig und der Kunsttischler David Roentgen schufen den Automaten 1784 für Königin Marie-Antoinette.

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2 Kommentare auf “Leonhard Euler und die Moral der Automaten”

  1. Herbert Bruderer sagt:

    Eine höchst amüsante Geschichte. Dazu ein paar Ergänzungen:
    Die „alte bucklige Hexe“ (Anfang 19. Jh.) ist ein prächtiger Automat, der sich mithilfe von zwei Stöcken fortbewegt. Er ist in Le Locle ausgestellt. Funktionsfähige lauffähige Roboter gab es schon vor 200 Jahren. Zu erwähnen ist auch Tierautomat, eine Seidenraupe, sie befindet sich ebenfalls in Le Locle. Es gibt u.a. auch Automaten in Form eines Schiffs (1585), die über einen Tisch rollen und Musik spielen (Wien). Leonardo da Vinci hat schon 1478 einen selbst fahrenden Wagen mit Federantrieb entworfen. Nachbauten gibt es z.B. in Florenz und Mailand. Vielleicht kannte Euler auch die drei sensationellen Figurenautomaten von Jaquet-Droz und Leschot (1774). Sie werden nach wie vor in Neuenburg vorgeführt. Mehr zu diesen und vielen weiteren sehr kunstvollen Automaten finden Sie in:
    Bruderer, Herbert: Meilensteine der Rechentechnik, De Gruyter Oldenbourg, Ber-lin/Boston, 3. Auflage 2020, Band 1, 970 Seiten, 577 Abbildungen, 114 Tabellen, https://www.degruyter.com/view/title/567028?rskey=xoRERF&result=7

    Bruderer, Herbert: Meilensteine der Rechentechnik, De Gruyter Oldenbourg, Ber-lin/Boston, 3. Auflage 2020, Band 2, 1055 Seiten, 138 Abbildungen, 37 Tabellen, https://www.degruyter.com/view/title/567221?rskey=A8Y4Gb&result=4

    Bruderer, Herbert: Milestones in Analog and Digital Computing, Springer Nature Switzerland AG, Cham, 3rd edition 2020, 2 volumes, 2113 pages, 715 illustrations, 151 tables, translated from the German by John McMinn, https://www.springer.com/de/book/9783030409739

  2. Andrea Reichenberger sagt:

    Der Kontext, in dem Euler die oben genannten Überlegungen zu Freiheit und Verantwortung anstellte, war die von Descartes eingeführte Unterscheidung zwischen res extensa und res cogitans. Euler modifizierte diesen Dualismus und hielt zugleich an ihm fest: Der Körper / das Körperliche / die körperliche Welt ist durch die Eigenschaften der Undurchdringlichkeit und Ausdehnung notwendig und hinreichend bestimmt. Ein Stein beispielsweise fällt aufgrund seiner Schwere und die Ursache der Gravitationswirkung kommt von „außen“. Der Geist / das Geistige / die geistige Welt ist durch „esprit“ und Willen (von innen) notwendig und hinreichend bestimmt. Daher macht sich jemand, der willentlich und mit voller Absicht einen anderen bestiehlt, schuldig. Bedingung der Möglichkeit für Freiheit als ein Recht und Verantwortung als eine Pflicht ist laut Euler der „Geist“, den Gott mit der Sünde geschaffen habe. Nachzulesen in Eulers Abhandlung „Rettung der Offenbarung gegen die Einwürfe der Freygeister“ (1747). Hier bestimmt Euler die Tugend als Liebe zu Gott und den Menschen. Das Bemühen um ein tugendhaftes Leben zeichnet den Menschen hinsichtlich seiner Fähigkeit aus, so Euler, das Wahre und das Gute zu erkennen. Wissenschaft stand daher für Euler dem Glauben an Gott nicht diametral gegenüber, sondern, im Gegenteil, Wissenschaft als fortwährendes Streben nach Erkenntnis führe geradezu zu Gott. Das klingt in Anbetracht der heutigen Diskussionen um eine „Responsible AI“ recht verstaubt und antiquiert. Doch mit der zunehmenden Komplexität der Mensch-Maschine-Interaktion werden wir uns zunehmend eines Problems bewusst, das als Erbe der Wissenschaft nicht gelöst, sondern lange einfach nur verdrängt wurde: Das Normen- und Werteproblem. „Religion, das gute Gewissen, die Menschenrechte und die Verfassung,“ so ist auf einer Seite der Bundeszentrale für politische Bildung zu lesen, „stellen Werte dar, die man nicht in Messwerte fassen kann.“ Wirklich nicht? Bekanntlich kann jedem Wert eine bestimmte Norm als eine Art Handlungsregel zugeordnet werden. Das gilt auch für ethische Werte. Sie werden damit messbar, berechenbar, lokalisierbar. Die heutige KI arbeitet längst damit. Die Frage ist, ob wir dies auch wollen. Verena Huber-Dyson bemerkte in einem Interview on Edge eine ganz erstaunliche Analogie zwischen Mathematik und Ethik: “watching a program about the American Civil Liberties Union I was repeatedly reminded of Gödel’s Theorem: every system is bound to encounter cases which it cannot decide, snags that will confront its user with a choice between either running into a contradiction or jumping out of the system . That is when, with moral issues at stake, cases of precedence are decided by thoughtful judgment going back to first principles of ethics, in the sciences alternate hypotheses are formed and in mathematics new axioms crop up.”

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