Mathematik und Utopie
Geschrieben am 23.12.2016 von HNF
Vor 500 Jahren, im Dezember 1516, erschien die „Utopia“. Das Buch des Engländers Thomas Moore wurde ein Welterfolg und schuf eine neue Literaturgattung. 1619 kam die deutsche Utopie „Christianopolis“ auf Latein heraus. Der Schwabe Johann Valentin Andreae beschrieb darin eine Idealstadt auf einer einsamen Insel. Ihre Bürger schätzen die Wissenschaft und ganz besonders die Mathematik.
Eine Utopie schildert eine Gemeinschaft von Menschen, in der es allen so gut wie möglich geht. Es gibt sie seit 500 Jahren: die erste kam im Dezember 1516 in der flämischen Stadt Löwen heraus und gab der Gattung den Namen. Urheber der lateinischen Utopia war der englischer Staatsmann Thomas Moore, auch Thomas Morus genannt. Bekannt ist sein trauriges Ende: Er legte sich mit König Heinrich VIII. an und wurde 1535 hingerichtet.
Im Anschluss an Morus erschienen bald weitere Utopien, darunter eine im Herzogtum Württemberg. Der Autor Johann Valentin Andreae, geboren 1586 in Herrenberg, war Theologe und Schriftsteller; er starb 1654 in Stuttgart. Seine Reipublicae Christianopolitanae descriptio entstand 1619. Das Buch beschreibt die Stadt Christianopolis, die auch in unserem Eingangsbild oben zu sehen ist. Sie liegt im Südatlantik auf der fiktiven Insel Caphar Salama und wird von 400 friedlichen Bürgern bewohnt.
Wie bei Utopien üblich, erfahren wir viel über die politischen und sozialen Zustände der Gemeinde. Die Christianopolitaner sind fromm und gute Protestanten, aber sie interessieren sich genauso für die Wissenschaft. Ihre Stadt besitzt ein Chemielabor, eine Apotheke, eine Anatomie und eine naturkundliche Sammlung. Die künstlerische Werkstatt lehrt Architektur, Perspektive und technisches Zeichnen. Und danach wird es spannend: In den Mauern von Christianopolis finden wir auch ein Gewölbe für die mathematischen Instrumente.
Das waren keine Rechenmaschinen, denn die gab es noch nicht, sondern vor allem Teleskope, astronomische Messgeräte und geometrische Zeichenhilfen. Hier packt Andreae die Wut, und er beginnt eine Schimpfkanonade gegen alle, die mit solchen Instrumenten nichts anfangen können: „Aber was erzähle ich hier! Als ob ich nicht wüsste, wie verhasst solch sinnreiche Werkzeuge dem Volk sind, das alles daran setzt, nur ja kein mathematisches Instrument benutzen zu können!“ In diesem Stil geht es noch sechzehn Zeilen weiter.
Der nächste Abschnitt der Utopie widmet sich dem Schauhaus der Mathematik. Es zeigt Himmels- und Erdkarten, kleine Modelle und geometrische Figuren, Bilder und Erklärungen mechanischer Apparate und last not least Musikinstrumente. Zitat: „Man konnte genaue Beobachtungen der Finsternisse sehen, wie auch – was ein neueres Forschungsergebnis ist – Beobachtungen der Sonnenflecken, wobei alles mit unglaublicher Sorgfalt und übermenschlichem Scharfsinn ausgeführt war.“
Mathematik ist natürlich auch ein wichtiges Thema der Erziehung. Die Schule von Christianopolis umfasst acht Hörsäle für die verschiedenen Fächer. Im Auditorium der Mathematik erlernt die Jugend Arithmetik und Geometrie sowie die geheimen Zahlen der Bibel. Johann Valentin Andreae kannte sich mit diesen aus. Er gilt als Urheber des berühmt-berüchtigten Rosenkreuzer-Mythos, der bis heute populär ist. In seiner Utopie von 1619 warnte er aber vor esoterischen Übertreibungen.
Mathematik enthalten ebenso die Vorlesungen in den Auditorien für Musik, Astronomie und Physik. Damit war Andreae der erste deutsche Gelehrte, der für MINT Reklame machte. Das Kürzel steht bekanntlich für die Fächer der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Eine weitaus bekanntere Wissenschaftsutopie kam acht Jahre nach dem Werk des Schwaben heraus. 1627 erschien Nova Atlantis von Sir Francis Bacon und beschrieb schon ein Forschungsinstitut, das Haus Salomon.
Eine neuere deutsche Fassung von „Christianopolis“ gibt es weder im Buchhandel noch im Netz. Online sind nur einige Ausschnitte, die erste Übersetzung von 1741 und eine Doktorarbeit zum Buch. Für Oktober 2017 ist eine deutsch-lateinische Edition in den Gesammelten Schriften von Andreae geplant. Hoffen wir, dass der Reclam-Verlag spätestens im Jubiläumsjahr 2019 die „Christianopolis“-Ausgabe von 1975 wieder auflegt. Sie bildete die Grundlage unseres Blogsbeitrags.
Zu erwähnen bleibt, dass Andreaes fiktiver Ort ein reales Gegenstück besitzt, ein Unikum in der utopischen Literatur. Der Grundriss von Christianopolis wurde – siehe Foto unten – durch Freudenstadt im Schwarzwald angeregt, der ersten Planstadt in Deutschland. Ihr Baumeister Heinrich Schickhardt war ein Onkel von Wilhelm Schickard, dem Erfinder der Rechenmaschine. Auf diese Weise erhalten wir doch noch eine Verbindung zwischen unserer Utopie und richtiger Rechentechnik.
Von Christianopolis ist es nur ein kleiner Schritt zum Christkind. Zum Abschluss wünschen wir allen unseren Lesern fröhliche Weihnachten. Der nächste Beitrag unseres Blogs erscheint direkt nach den Festtagen zwischen den Jahren.
Foto: Lothar Neumann, CC BY-SA 2.0 DE