Rechnen mit den Fingern
Geschrieben am 24.05.2022 von HNF
Menschen rechnen im Kopf, auf Papier, mit mechanischen und elektronischen Geräten und mit der Hand. Bekannt ist diese Methode seit dem Altertum; das lateinische Wort „digitus“ für den Finger führte zum Digitalrechner. Ein einzigartiges Modell erfand 1919 der Lehrer Wilhelm Wlecke in Gütersloh. Seine Finger-Rechen-Maschine wurde in ganz Deutschland benutzt; einige blieben in Museen erhalten.
Das älteste Rechengerät des Menschen ist die Hand; auf den Fingern basiert unser Dezimalsystem. Schon die alten Römer kannten Verfahren, um größere Zahlen darzustellen und mit ihnen umzugehen. Wir empfehlen dazu die Universalgeschichte der Zahlen des Franzosen Georges Ifrah. Eine englische Übersetzung des Buchs ist online.
In moderner Zeit ging die Kunst des Fingerrechnens verloren, aber wir können noch von eins bis zehn zählen. Wir beginnen am rechten Daumen und stoppen beim kleinen Finger links. Andere Länder machen es anders: Amerikaner fangen mit dem Zeigefinger an, und Russen strecken die Finger nicht empor, sondern knicken sie ab. Die deutsche Methode führte zu einem bemerkenswerten Gerät, dem ersten digitalen Rechner, der diesen Namen wirklich verdiente. Denn das Adjektiv geht auf „digitus“ zurück: Das ist der Finger auf Lateinisch.
Wir kennen nur seine Werke, seinen Namen und seinen Beruf. Wilhelm Wlecke war Lehrer im ostwestfälischen Gütersloh; in den 1950er-Jahren verbrachte er seinen Ruhestand in Lemgo. Am 5. März 1919 meldete er eine Fingerrechenmaschine zum Patent an; am 18. Januar 1921 wurde es mit Nummer 331.979 gewährt. 1929 erschien in Gütersloh sein 66 Seiten starkes Buch „Die Finger als Fundament des ganzen Zahlenbaues“. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte sich Wlecke erneut mit Instrumenten für den Mathematikunterricht.
Seine Finger-Rechen-Maschine, wie sie später geschrieben wurde, war genau das, ein System mit Fingern zum Rechnen. Es besaß kein Räderwerk, sondern an zehn Positionen zwanzig Zeiger aus Blech. Wie im Foto unten zu sehen, konnte man jeweils einen weißen Finger hochklappen oder einen weißen und einen rotbraunen: dieser verdeckte dann den weißen Finger. Der Lehrer oder die Lehrerin bediente die Mechanik auf der Rückseite. Falls ein Finger-Paar unten blieb, ergab sich eine Leerstelle.
Die Apparatur war für die Grundschule gedacht; sie zeigte Gruppen von Objekten an und leistete das Gleiche wie die ältere Kinderrechenmaschine mit Kügelchen. Wilhelm Wlecke verkaufte seine Erfindung in zwei Ausführungen. Die größere kostete 32 Reichsmark; eine Schule konnte sie auch ein Jahr mieten. Das HNF besitzt, siehe Eingangsbild, die kleinere Version. In seinem Buch von 1929 beschrieb Wlecke verschiedenen Rechenaufgaben. Dem Text zufolge folgten die Schüler den Anzeigen der Maschine, indem sie ihre eigenen Finger auf die Tischkante legten.
Wleckes Buch schilderte auch das Rechnen oberhalb der Zehn. Das geschah durch Karten mit Händen; sie wurden in das Fach vor den Fingern gelegt, wie im Eingangsbild erkennbar. Jede Hände-Reihe wies zehn Paare mit den Zahlen 10, 20, 30 usw. auf. Eine weitere Karte enthielt ein großes Händepaar mit zehn Strichen auf jedem Finger, die mit einer Schablone abgedeckt wurden. Wir fanden ein Patent von 1927, das ganz ähnliche Grafiken für den Rechenunterricht vorsah. Der Erfinder hieß Wilhelm Tegeler und wohnte im westfälischen Städtchen Rahden; vielleicht übernahm Wilhelm Wlecke Ideen von ihm.
1948 meldete Georg Karl Hein aus Fulda ein neues Fingerrechengerät zum Patent an, die Patentschrift lässt sich hier studieren. In den 1950er-Jahren erfand Wilhelm Wlecke noch ein Gerät zum Bruchrechnen und ein zweites, um Winkel und Kreisbögen zu messen. Er erhielt jedoch kein Patent, sondern ließ nur Gebrauchsmuster eintragen. Sie trugen die Nummern 1.686.075 und 1.823.079. In jüngerer Zeit entstanden scherzhafte Fingerrechner einfachster Art, unter anderem bei einem Paderborner Computerhersteller – bitte nach unten scrollen.
Wilhelm Wleckes Schöpfung gelangte im Laufe der Jahre in diverse Sammlungen; das Stadtmuseum Gütersloh besitzt mehrere Exemplare. Wir danken Eva Kudrass für das Foto der Maschine aus dem Deutschen Technikmuseum und die Erlaubnis, es im Blog nutzen zu können. Bei Wilfried Denz von Rechnen ohne Strom bedanken wir uns für das Bild der beiden Hände-Karten.
Spannend finde ich unter anderem die Tatsache, dass verschiedene Völker unterschiedlich mit den Fingern zählen bzw. rechnen. Es gibt einen bekannten Liebesroman, der in Burma während des Zweiten Weltkriegs spielt (R. Mason, The wind cannot read). Darin entlarvt ein Engländer eine Japanerin, die sich als Chinesin ausgeben muss, dadurch, dass er sie mit den Fingern zählen lässt: Chinesen machen dies anders als Japaner.
Ergänzend zu dem hoch interessanten Beitrag möchte ich auf das Standardwerk von Karl Menninger verweisen „Zahlwort und Ziffer“, das in vielem über Ifrahs Buch hinausgeht. Ich glaube, hier findet sich auch der Hinweis auf die Fingerzähl-Passage in Masons Roman.