Rechnen mit Luft

Geschrieben am 28.01.2022 von

In den späten 1950er-Jahren erfand ein amerikanischer Physiker die Technik der Fluidik. Sie ersetzte in Schaltkreisen die Verstärker und logischen Bauelemente durch Teile, die von Flüssigkeiten oder Gasen durchströmt wurden. Eine Zeitlang galt die Fluidik als ernst zu nehmende Alternative zur Elektronik; sie fand zum Beispiel Anwendung in Geräten, die bei hohen Temperaturen arbeiten mussten.

Nach der Art der verwendeten Bauteile werden Rechengeräte in mechanische, elektrische und elektronische unterteilt. Mechanische Rechenmaschinen sind altbekannt, mechanische Computer selten; da gab es nur die Entwürfe von Charles Babbage und die Z1 von Konrad Zuse. Die zweite Computer-Gattung enthält Relais – Beispiele waren Zuses Z3 und Z11 – und die dritte Röhren, Transistoren, integrierte Schaltungen und Mikrochips.

Die Dreiteilung Mechanik-Elektrik-Elektronik gilt ebenso für Analogrechner. In den 1930er-Jahren lief in der Sowjetunion ein vierter Typ: der Wasserintegrator. Er löste komplizierte Differentialgleichungen und wurde nach dem Krieg in Serie gebaut; hier geht es zu einigen Fotos. Mit fließendem Wasser operierte auch der „Monetary National Income Analogue Computer“ MONIAC. Der neuseeländische Wirtschaftswissenschaftler William Phillips konstruierte ihn 1949 als Student in London. Einen Nachbau des MONIAC soll die Technische Universität Clausthal angeschafft haben.

Wasser marsch! William Phillips an seinem Geldfluss-Rechner (Foto LSE)

Rechnen kann man nicht nur mit Wasser. 1957 erlebte der Physiker Billy Horton, wie Rauch aus seinem offenen Kamin ins Wohnzimmer drang. Er fand schließlich heraus, dass er den Qualm mit einem Blasebalg in den Schornstein zwingen konnte. Horton wurde 1918 in Texas geboren und arbeitete in einem Forschungsinstitut der US-Armee in Washington. Seine Beobachtung setzte eine Gedankenkette in Gang, die zu einem neuartigen Verstärker führte. Darin lenkt ein schwacher Luftstrom einen starken ab; der kräftige Strom kann dann einen von zwei Wegen einschlagen.

Billy Hortons „fluid amplifier“ war der Beginn der Fluidik. Im April 1960 schrieb über sie die englische Zeitschrift New Scientist; sie erwähnte schon einen Einsatz im Computer. Im Juli folgte ein Beitrag im Magazin Popular Science. Horton meldete außerdem ein Patent an. Ein weiteres Patent beantragte 1962 der New Yorker Ingenieur Raymond Auger. Er entdeckte, dass sich Fluidik-Teile für Operationen der Aussagenlogik eigneten. Auger war zuvor durch ein Roboter-System bekannt geworden, das Bilder malte. Im Video sieht man seinen Shop und die Programmiervorrichtung; jedes Werk kostete zweieinhalb Dollar.

Ein Grundbaustein der Fluidik ist die Wegteilung. Sie realisiert einen Verstärker wie auch eine Flip-Flop-Schaltung. Der schwache Luftstrom fließt unten in horizontaler Richtung.

Die Fluidik wurde rasch populär und erwarb sich den Ruf einer Alternative zur Elektronik. Eine Einführung lieferte 1964 der Scientific American. 1967 berichtete die Illustrierte LIFE; die Fotos zeigten die seltsame Schönheit der Bauelemente. Zwei russische Videos zur neuen Technik lassen sich hier und hier anschauen. Sie deuteten die Verbindung zur Aerodynamik und zum Coandă-Effekt an. Den kannte auch der SPIEGEL, der im August 1968 die Fluidik mit der Erfindung des Transistors verglich. Schon 1963 erdachten Forscher der Firma Sperry Rand einen fluidischen Computer und bauten ein Versuchsmodell namens FLODAC.

Fluidik-Schaltungen waren langsamer als elektronische, doch sie funktionierten bei hohen Temperaturen. Das Magazin „hobby“ schilderte 1970 den Einsatz in einem Düsentriebwerk, in dem fluidische Elemente den Luftdurchsatz regelten. Sie verkrafteten bis zu 600 Grad. Die Schaltungen steckten auch in Maschinen, die leicht entflammbare Flüssigkeiten abfüllten und in denen keine Funken auftreten durften. Wer sich im Internet Archive anmeldet, kann dort ein Buch lesen, das Verwendungen von der Medizin bis zum Flugzeugbau behandelt. Einen kürzeren Überblick aus den 1980er-Jahren kann man hier sofort herunterladen.

Fluidische UND- und ODER-Schaltungen. „Passive“ heißt, dass sich nur die strömende Luft bewegte. Der Coandă-Effekt sorgte dafür, dass sie den Wänden folgte.

Mit der Zeit wurde die Fluidik aber durch die Mikroelektronik verdrängt. Natürlich gibt es noch die Strömungstechnik, die Pneumatik und das große Feld der Regelung mit Gasen und Flüssigkeiten; die Mikrofluidik erforscht ihr Verhalten in kleinsten Dimensionen. Ein gutes Beispiel ist der Tintenstrahldrucker. Bei unseren Recherchen stießen wir auf den fluidischen Oszillator; ein Modell entstand 2014 in der Technischen Universität Berlin. Ein anderes wird an der Universität Rostock untersucht. Solche Elemente könnten die letzten sein, die an die klassische Fluidik von Billy Horton anknüpfen. Der Physiker starb 2003 in Cleveland.

Neben Analog- und Quantenrechnern ist die Fluidik die bekannteste alternative IT-Technik. Dieses Fach wird an Hochschulen im mexikanischen Monterrey und im englischen Bristol bearbeitet. Dem dortigen Unconventional Computing Laboratory verdanken wie die „kurze Geschichte von flüssigen Computern“ von 2018. Unser Eingangsbild stammt aber aus dem US-Patent Nr. 3.024.805 „Negative Feedback Fluid Amplifier“ von 1960 und von Billy Horton. Die Grafiken im Text sind aus US-Patent Nr. 3.190.554 für den Fluidik-Computer FLODAC.

Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Ein Kommentar auf “Rechnen mit Luft”

  1. Ein faszinierendes Stück Technik Geschichte. Auch die Banken und Sparkassen beschäftigten sich in den späten 1960 er Jahren intensiv mit der neuen Technik. Das zeigt, wie die technische Entwicklung eben nicht linear ist, sondern eventuell auch ganz andere Entwicklungen hätte nehmen können. Den Computer mit Wasser kannte ich hingegen noch nicht und wusste auch nicht, dass er in der Sowjet Union gebaut wurde. Interessant!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir stellen diese Frage, um Menschen von Robotern zu unterscheiden.