Regieren Sie mal!
Geschrieben am 24.09.2021 von HNF
Am Sonntag können die Bürger und Bürgerinnen einen neuen Bundestag wählen. Daher behandeln wir heute ein Buch, das in die Kunst der Politik einführt. „Regieren Sie mal!“ erschien 1969 in England und 1970 bei uns; der Verlag nannte es einen Spiel-Roman. Er knüpfte an die damals populäre programmierte Unterweisung an, ein Teilgebiet der kybernetischen Pädagogik.
„Wenn Sie sich eine Karte von Afrika vorstellen, dann befindet sich Lakoto südlich von Mokoran, nördlich von Lawtonia, westlich von Ostkangola und hat somit keine Küste.“ Lakoto ist ein fiktives Land, gehörte aber seit 1893 zum britischen Weltreich. 1969 wurde es zum Schauplatz des englischen Romans „State of Emergeny“, was den politischen Notstand bedeutet. Die deutsche Fassung trug 1970 den Titel Regieren Sie mal! – aus ihr stammt unser Zitat.
Die Autoren des Werks hießen Dennis Guerrier und Joan Richards, laut Schutzumschlag zwei ebenso ernsthafte wie fröhliche Computer-Fachleute. Herr Guerrier arbeitete im englischen Gesundheitsministerium, und er war Experte für programmierte Unterweisung. Sie zählte zur kybernetischen Pädagogik der 1960er-Jahre, die wir im Blog vorstellten. Der Schüler ging dabei meistens eine Sammlung von Aufgaben durch. Bei jeder standen mehrere Antworten zur Wahl; bei der korrekten sprang der Schüler zur nächsten Frage. Bei einer falschen las er einen erklärenden Text durch und versuchte es dann noch einmal.
Unsere Autoren übertrugen das Prinzip in die Sphären der Politik. Wer „Regieren Sie mal!“ liest, hilft Toumi Okobo, dem Ministerpräsidenten von Lakoto, bei den Staatsgeschäften. Alle paar Seiten wird eine Entscheidung gefällt; abhängig vom Ergebnis geht die Geschichte an unterschiedlichen Buchseiten weiter. Bei den falschen Entschlüssen werden kurz die Gründe beschrieben, und der Leser muss zurückblättern („Bitte lesen Sie nochmals Seite 125 und treffen Sie eine andere Wahl“).
Der Roman beginnt mit dem Unabhängigkeitsfest von Lakoto, also eigentlich positiv. Dann stellt sich eine Krise ein, und der Bürgerkrieg rückt näher. Am Ende kann Staatschef Okobo und mit ihm der Leser nur noch überlegen, ob er in Rotchina oder in Großbritannien Waffen kaufen soll. Zur Erzählung bietet das Buch vertiefende Informationen über Land und Leute an, und wir lernen die Nationalhymne und die Briefmarken von Lakoto kennen. Wo es genau liegt, wird nicht verraten; die Hinweise zur Geographie passen am ehesten auf Uganda.
„Regieren Sie mal!“ wurde unter anderem von der ZEIT und dem Technikmagazin „hobby“ besprochen; 1972 erschien der Roman als Taschenbuch. Heute wirkt er etwas angestaubt, doch Dennis Guerrier und Joan Richards gaben sich viel Mühe bei der Darstellung politischer Vorgänge. Sie verbanden höchst originell das programmierte Lernen mit der interaktiven Literatur, bei der die Leser oder die Zuschauer den Erzählfluss verändern. Ein gutes Beispiel war der tschechische Film Kinoautomat, der 1967 auf der Weltausstellung von Montreal viele Freunde fand. Im Video ist er ab Minute 16:30 zu sehen.
Dennis Guerrier veröffentlichte 1969 drei weitere Titel. Zusammen mit dem Schriftsteller John Garforth schrieb er einen Krimi, bei dem zur Programmierung noch eine Punktwertung kam. Außerdem produzierte er interaktive Versionen der Spiele Käsekästchen und Tic-Tac-Toe. In den frühen 1970er-Jahren erstellte er Bücher über Archimedes, Nikolaus Kopernikus, Galilei Galileo und Isaac Newton. Danach verliert sich seine Spur. Das Gleiche gilt für Joan Richards: auch über ihr Schicksal ist uns nichts bekannt.
Die interaktive Unterhaltung lebte fort. In der Computerwelt erschienen in den Siebzigern die Textabenteuer; am Ende des Jahrzehnts brachten US-Verlage die ersten Spielbücher heraus. In den 1980er-Jahren verbreiteten sie sich hierzulande. Wer aber im alten Stil programmiert lernen möchte, findet das Computerrechnen Schritt für Schritt im Internet Archive. Für Gamebook-Fans gibt es online eine umfangreiche Datenbank; der Engländer Nathan Penlington liefert hier und hier Einblicke in die schönsten interaktiven Bücher.
Zum Schluss möchten wir alle Leser und Leserinnen bitten, am Sonntag zur Wahl zu gehen, sofern sie nicht schon per Brief abstimmten. Regieren Sie mal! Das Eingangsbild oben zeigt das Tor des Parlaments von Kenia in der Hauptstadt Nairobi. Das Foto nahm Jorge Láscar auf (CC BY-SA 2.0 seitlich beschnitten).