Rohre für Briefe
Geschrieben am 24.05.2024 von HNF
Am Sonntag veranstaltet das HNF im gesamten Haus den Sachen-machen-Tag mit freiem Eintritt. Er gilt vor allem dem Thema Wellen, doch wird auch die Rohrpost wieder in Betrieb genommen. Sie gehörte von Oktober 2021 bis Januar 2023 zur Ausstellung „Papierflieger und Gummitwist“. Rohrpost-Anlagen gibt es seit 1853, und die Technik lebt in moderner Form weiter.
Die Hauptfrage lautet natürlich: Wer hat sie erdacht? Wer kam auf das Prinzip, Telegramme, Briefe und Päckchen in Kapseln und mit Druckluft durch Röhren zu schicken? Dafür bürgerte sich in der deutschen Sprache in den 1870er-Jahren das Wort Rohrpost ein. Das Englische kennt die pneumatic tube, die Franzosen sprechen von poste pneumatique.
Der Erfinder der Rohrpost war der englische Uhrmacher und Ingenieur George Medhurst. Er wurde 1759 im Ort Shoreham südöstlich von London geboren und arbeitete später in der Hauptstadt. 1810 beschrieb er eine Technik, um mit komprimierter Luft Objekte in einem Behälter („vessel“) und in Röhren zu befördern. Anscheinend erhielt er für das Konzept ein königliches Patent. In seinem Text deutete Medhurst auch den Transport von schwereren Gütern und Passagieren an. Realisiert hat er sein System nie, er starb im September 1827 und wurde in seinem Geburtsort bestattet.
1826 baute John Vallance im englischen Seebad Brighton eine 45 Meter lange Teststrecke für eine Personen-Rohrbahn; der Wagen hatte 2,40 Meter Durchmesser. 1864 bewältigte ein pneumatischer Zug 550 Meter in einem Londoner Park beim Kristallpalast. Nur 90 Meter legte die Bahn zurück, die der amerikanische Erfinder Alfred Ely Beach von 1870 bis 1873 unter dem New Yorker Broadway betrieb. Tunnelfahrzeuge tauchten dann gelegentlich in der Science-Fiction auf; in unserer Tagen erlebten sie eine Wiederauferstehung als Hyperloop.
Die erste postalische Rohrpost installierte der Ingenieur Josiah Latimer Clarke 1853 für die Electric Telegraph Company, eine 1846 in London gegründete Telegrafie-Gesellschaft. Eine Dampfmaschine pumpte eine Anderthalb-Zoll-Leitung leer, die zur 200 Meter entfernten Aktienbörse führte. Dort wurden die Beutel mit den Botschaften hineingesteckt und zum Telegrafenbüro gesaugt. Die leeren Beutel wurden oberirdisch zur Börse zurückgebracht. Aus diesen bescheidenen – und privaten – Anfängen entstand bis Ende des 19. Jahrhunderts das Londoner Rohrpostnetz mit einer damaligen Länge von 35 Meilen.
Am 18. November 1865 startete der erste Abschnitt der Berliner Rohrpost. Er verband das Haupttelegrafenamt mit der Börse. Am 2. März 1868 folgte eine Strecke vom Amt bis zum Potsdamer Platz. Bis 1939 wuchs das Netz auf eine Länge von 400 Kilometern. Nach dem Krieg gab es getrennte Systeme in den beiden Teilen der Stadt. Die West-Berliner Anlage lief bis 1963, die im Osten bis 1976. Eine Rohrpost hatten ebenso München und Hamburg. Hier entstand in den 1960er-Jahren eine Großrohrpost mit 45 Zentimeter breiten Behältern. 1976 wurde aber alles stillgelegt.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte es die Technik auch zu literarischen Ehren. „Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr“, dichtete Erich Kästner 1932. Kurz vorher beschrieb der Utopist Ludwig Dexheimer ein europaweites System in seinem Buch „Das Automatenzeitalter“; es verschickte hauptsächlich die Mahlzeiten der Zentralküche. Der englische Autor George Orwell erwähnte 1949 eine Rohrpost in seinem Roman „1984“. Bekannt ist, dass der Schriftsteller Franz Kafka gelegentlich das Netz von Prag nutzte.
Heute existiert wohl keine öffentlich verfügbare Rohrpost mehr. Die Technik ist aber nicht ausgestorben. Es gibt pneumatische Kommunikation in Krankenhäusern, für den Transport von Bargeld und sicherlich in Geheimdiensten. Zu Beginn des Jahres erfuhr man, dass das Berliner Kanzleramt eine Linie mit 36 Stationen und einer Länge von 1.300 Metern besitzt. Pro Monat sollen tausend Sendungen hin und her laufen. Die im Markt aktiven Hersteller lassen sich mit den Suchworten „Rohrpostanlagen“ und „Rohrpostsysteme“ ergoogeln. Erst vorgestern berichtete der YouTube-Kanal der Deutschen Welle über das Rohrpost-Revival.
Einen guten Einblick in die Rohrpost-Geschichte liefert das Museum für Kommunikation in Berlin im ersten Obergeschoss. Jeden Monat bietet es eine spezielle Führung an, die auch den Maschinenraum im Keller einschließt. Das HNF zeigte von 2021 bis 2023 eine moderne Anlage am Rand der Ausstellung Papierflieger und Gummitwist; sie stammte von der Firma Einberger und ist oben im Eingangsfoto zu sehen. Am Sachen-machen-Tag am Sonntag wird sie an einem neuen Platz im ersten Obergeschoss wieder eingeschaltet. Nun folgt aber eine Bilderstrecke mit alten und neuen Rohrposten – Druckluft an !