Vom Hacker zum Casinochef

Geschrieben am 10.08.2018 von

Die optischen Telegrafen von Claude Chappe bildeten das erste Informationsnetz der Welt. 1794 ging es in Betrieb, voll ausgebaut umfasste es 556 Stationen in Frankreich. Von 1834 bis 1836 „hackten“ die Brüder François und Louis Blanc die Strecke Tours-Bordeaux, um Börsenkurse zu erfahren. Später führten sie die Spielcasinos von Bad Homburg und Monaco zum Erfolg.

Die Französische Revolution lag vier Jahre zurück, als der entscheidende technische Test stattfand. Im Pariser Vorort Belleville, im Dorf Écouen nördlich davon und in Saint-Martin-du-Tertre noch weiter draußen wurden drei Zeigertelegrafen aufgebaut. Am 12. Juli 1793 schickten die Bediener von Belleville ein Signal über Écouen nach Saint-Martin-du-Tertre. Neun Minuten später traf die Antwort ein. Das System des jungen Erfinders Claude Chappe hatte bestens funktioniert.

Der Nationalkonvent, die höchste Gewalt im Lande, billigte den Telegrafen und beschloss die Finanzierung der ersten Strecke. Sie führte über 190 Kilometer von Paris nach Lille im Norden und wurde am 16. Juli 1794 eingeweiht. Die achtzehn Chappe-Türme übertrugen ein Zeichen in wenigen Minuten. Sie bildeten die erste Etappe eines Kommunikationsnetzes, das sich mit der Zeit über ganz Frankreich ausdehnte. Mitte des 19. Jahrhunderts umfasste das Netz 556 Stationen, die gesamte Streckenlänge betrug 4.800 Kilometer.

1823 wurde die Verbindung von Paris zum 500 Kilometer entfernten Bordeaux geknüpft. In der Hafenstadt in Südwestfrankreich treffen wir 1834 die unternehmungslustigen Zwillinge François und Louis Blanc. Sie waren Jahrgang 1806, stammten aus der Provence und hatten schon einiges erlebt. Bei einem Wanderzirkus lernten sie Kartentricks und verdienten dann gutes Geld in den Spielsalons von Marseille. In Bordeaux begannen sie, an der städtischen Börse zu spekulieren.

Dachgeschoss eines Chappe-Turms: an den Enden des beweglichen Regulators sitzen die Indikatoren. Die Balken zeigten 92 Zeichen an. (Foto: Jan Braun, HNF)

François und Louis konzentrierten sich auf Staatsanleihen. Ihre Kurse ergaben sich an der Börse von Paris; von dort gingen sie per Postkutsche in zwei Tagen zum Handelsplatz an der Küste. Ein Spekulant, der die Pariser Daten vor der Ankunft der Pferdepost erfahren hätte, wäre klar im Vorteil gewesen. Er hätte bei Kursanstiegen Papiere billig aufkaufen oder beim Abschwung günstige Optionen vereinbaren können. Zwischen den Börsen von Paris und London flogen ab und zu Brieftauben; eine Taubenpost nach Bordeaux ist nicht bekannt.

Es gab allerdings den Chappe-Telegrafen. Er übertrug aber keine Börsenkurse, sondern nur staatliche oder militärische Informationen. Das heimliche Einschieben einer zusätzlichen Nachricht war ausgeschlossen, denn die Türme wurden nach genauen Vorschriften bedient. Ein Telegrafist, der an der vorigen Station ein Zeichen beobachtet hatte, stellte es in seinem eigenen Turm ein, so dass es der nächste sah. Er überzeugte sich anschließend mit dem Fernrohr, dass der Kollege das Zeichen korrekt übernahm, und alles wurde protokolliert.

Da half den Zwillingen ein Experten-Tipp. Bei einer Übermittlung konnte es vorkommen, dass der Telegrafist nicht aufpasste und die Zeiger falsch positionierte. Für solche Fälle besaß das Chappe-System ein Sonderzeichen, das das zuvor geschickte Symbol für ungültig erklärte. Der Bediener musste anschließend  das korrekte Symbol einstellen. Die neuen Zeichen wurden in der Nachricht von Turm zu Turm weitergereicht. Sie verschwanden erst am Ende der Strecke, wenn der übermittelte Text auf Papier niedergelegt wurde.

François Blanc, der Begründer der europäischen Spielcasinokultur

François und Louis heckten einen ingeniösen Plan aus. Die Nachrichten von Paris nach Bordeaux wurden auf halber Strecke in Tours ausgelesen und auf Fehler geprüft. Danach erfolgte die weitere Übermittlung. Der Komplice der Blancs in der Pariser Börse schickte zu gewissen Zeiten ein Päckchen an den Telegrafisten von Tours. Stieg der Kurs der Anleihen, enthielt es Handschuhe, fiel er, gab es Socken. Der Chappe-Bediener setzte nun einen von zwei vereinbarten Fehlern in eine Botschaft nach Bordeaux, danach das Löschzeichen.

Ein zweiter Helfer richtete in der Hafenstadt ein Teleskop auf den örtlichen Zeigertelegrafen, der unter freiem Himmel stand. Sobald die Falschanzeige für Anstieg oder das Analogon für fallende Kurse erschien, informierte er François und Louis, die im Börsensaal aktiv wurden. Das Päckchen von Paris nach Tours lieferte die Pferdekutsche aus; hier ließ sich also keine Zeit gewinnen. Den entscheidenden Vorsprung – dazu reichten ein, zwei Stunden – brachte der optische Telegraf von Tours nach Bordeaux.

1836 flog das Unternehmen auf, ein Jahr später fand in Tours der Prozess stand. Die Zwillinge erhielten eine milde Strafe wegen Beamtenbestechung; das an der Börse gewonnene Geld durften sie behalten. Sie investierten es in eine Spielbank in Paris. Sie lief bis Jahresende, danach wurden aufgrund eines neuen Gesetzes alle Casinos in Frankeich geschlossen. 1840 einigten sich François und Louis mit Landgraf Ludwig Wilhelm von Hessen-Homburg auf die Gründung eines Roulette-Hauses in seinem Fürstentum.

Modell einer Station der preußischen optischen Telegrafenlinie.

Es eröffnete im Mai 1841 in Bad Homburg und war ein Riesenerfolg, vor allem wegen der Idee, in den Roulettekesseln nur eine statt den damals üblichen zwei Nullen zu verwenden. Damit schufen die Brüder Blanc das bis heute in Europa gültige Spielsystem. Das Casino stellte 1872 den Betrieb ein; zu diesem Zeitpunkt widmete sich François Blanc – Louis war 1850 gestorben – schon einem neuen Projekt. Seit April 1863 besaß er die Konzession für eine Spielbank in Monaco. Er machte daraus das berühmteste Casino der Welt. 1877 starb François Blanc in der Schweiz, 1949 öffnete die Spielbank von Bad Homburg wieder.

Das Telegrafen-Abenteuer der Blancs inspirierte mindestens zwei Autoren. „Der Graf von Monte Christo“, verfasst in den 1840er-Jahren von Alexandre Dumas dem Älteren, bringt eine Episode in einem Chappe-Turm. Der Held Edmond Dantès setzt eine gefälschte Nachricht ab; sie löst einen Börsensturz aus, der seinen Feind Danglars ruiniert. Vielschreiber Élie Berthet blähte 1869 die Geschichte der Zwillinge auf und machte sie zu bösen Betrügern. „La Tour du télégraphe“ ist aber der erste Hackerroman der Literaturgeschichte.

Die erste optische Telegrafenlinie, die teilweise über deutschem Boden verlief, war die Verbindung von Metz nach Mainz. Sie arbeitete von Mai 1813 bis Januar 1814 nach dem Chappe-Systen. Von 1832 bis 1849 unterhielt das Königreich Preußen eine Strecke von Berlin nach Koblenz; die Anzeigetechnik folgte englischen Vorbildern. Gelegentlich übertrug man auch Meldungen für die Presse. Ob Börsenberichte darunter waren, ist nicht überliefert.

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Ein Kommentar auf “Vom Hacker zum Casinochef”

  1. Ein Morporkianer sagt:

    Toller Artikel, danke! In den lesenswerten Romanen von Sir Terry Pratchett zur skurillen Scheibenwelt findet sich ebenfalls die optische Telegraphie (dort Klacks genannt, wohl wegen des Geklappers). Börsenspekulation und Privatbesitz von Telegraphie Türmen werden dort ebenso thematisiert wie erste Hacks – sicherlich inspiriert durch die in diesem Artikel schön geschilderten Begebenheiten.
    Als Einstieg empfehle ich den Roman „ab die Post“

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