Würfel, Mäuse und Computer
Geschrieben am 15.09.2020 von HNF
Am 16. September 1970 eröffnete im New Yorker Jüdischen Museum die Ausstellung „Software“. Sie beleuchtete die Rolle der Informationstechnik in der Kultur. Beteiligt waren Künstler wie auch Wissenschaftler; zu ihnen gehörten der Hypertext-Pionier Ted Nelson und der Medienforscher Nicholas Negroponte. „Software“ wurde von vielen Problemen geplagt. 2007 erlebte das zentrale Exponat eine Wiederauferstehung in Berlin.
An der New Yorker Fifth Avenue, gegenüber dem großen See vom Central Park, steht ein prächtiges Haus im spätgotischen Stil. Es wurde 1908 errichtet und gehörte einst dem deutsch-amerikanischen Bankier Felix Warburg. Seit 1944 ist es das Jüdische Museum der Stadt. Seine Sammlungen zur Kunst und Kulturgeschichte sind einmalig in Amerika.
Vor fünfzig Jahren widmete sich das Museum einem völlig anderen Thema, das machte schon der Titel der Sonderausstellung deutlich. „Software“ bezog sich auf Computer und elektronische Medien; außerhalb der EDV war das Wort damals kaum bekannt. Der Untertitel der Schau lautete „Informationstechnik: ihre neue Bedeutung für die Kunst“. Sie belegte im Herbst 1970 das Nebengebäude des Museums. Es entstand 1963 und ist hier im Foto zu sehen. Für die Erweiterung des Haupthauses wurde es 1993 abgerissen.
Den Anstoß für „Software“ gab die Ausstellung Cybernetic Serendipity über Elektronik, Computer und Kultur. Sie fand 1968 in London statt, erntete gute Kritiken und wurde 1969 in San Francisco und Washington gezeigt. Die Schau war eine Herausforderung für die New Yorker Kunstszene. Die erste Antwort war Information vom Museum of Modern Art; die Ausstellung lief vom 2. Juli bis 20. September 1970. Sie umfasste hauptsächlich Bild-Text-Tafeln. Im Winter 1968/69 hatte das MoMA bereits die Maschine in der Kunst behandelt.
Karl Katz, der Direktor des Jüdischen Museums, begann zur gleichen Zeit mit der Planung seiner Ausstellung. Als Kurator gewann er den Künstler und Kunstprofessor Jack Burnham; er glaubte an die Fusion von Kunst und Technologie, die schon die „Cybernetic Serendipty“ kennzeichnete. Der technische Berater wurde Ted Nelson. Er war Soziologe, propagierte seit den frühen 1960er-Jahren das Hypertext-Prinzip und träumte von damit arbeitenden Computern. Diskussionen mit Künstlern und Technikern schlossen sich an; dort wurde auch der Ausstellungstitel „Software“ geboren.
Die Ausstellung wurde dann aufgebaut; das Budget summierte sich auf 150.000 Dollar, was einer Million heutiger Dollars entspricht. Einen Teil der Unkosten bezahlten ein Sponsor, die Autofirma American Motors, und die Smithsonian Institution; sie wollte „Software“ später in Washington zeigen. Die Eröffnung in New York fand am 16. September 1970 statt. Sie ist im Ausstellungsbuch dokumentiert, das man hier herunterladen kann. Bitte Geduld und Speicherplatz mitbringen, die Datei ist 42 Megabyte schwer.
Wir möchten die Vorworte überspringen und nur einige Werke vorstellen, die im Jüdischen Museum zu besichtigen waren. Von Ted Nelson kam der interaktive Katalog „Labyrinth“. Er wurde mit einem PDP-8-Minicomputer und mehreren Monitoren realisiert und enthielt einen Hypertext. Der in Köln geborene und in New York lehrende Konzeptkünstler Hans Haacke installierte per Time-Sharing eine Besucher-Umfrage; darüber hinaus stellte er Fernschreiber auf, die aktuelle Meldungen der großen Nachrichtenagenturen ausdruckten.
Der Programmierer Allen Razdow und der Musikproduzent Paul Conly steuerten einen komponierenden Computer mit einem Synthesizer bei. Der deutsch-amerikanische Kunstprofessor Carl Fernbach-Flarsheim schuf ein System, das mit einem Zufallsgenerator Gedichte erzeugte. Mehr als die Hälfte der zwei Dutzend Exponate operierten noch mit analoger Elektronik oder entstammten der Medienkunst. Ein Gerät setzte Fernsehbilder in taktile Impulse um, die man auf einer Matrix aus 400 kleinen Vibratoren erfühlen konnte.
Die zentrale Station der Ausstellung war jedoch Seek, zu Deutsch Suchen. Erbaut hatte sie Nicholas Negroponte mit seinen Studenten vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Die Suchenden waren vierzig Rennmäuse, die in einem verglasten Gehege eine Landschaft aus Würfeln bewohnten. Diese hatten metallene Seiten und konnten mit einem Kran oberhalb des Geheges versetzt werden. Er wurde mit einem Interdata-Minicomputer gesteuert; das Umräumen der Würfel ermöglichte ein am Kran hängender Elektromagnet.
Die Tierchen brachten die Würfel laufend durcheinander; die Aufgabe des Computers bestand nun darin, aus dem Chaos wieder Ordnung zu schaffen und dabei die Ideen der Mäuse zu berücksichtigen. Der tiefere Sinn war nur den Entwicklern klar, auf jeden Fall zog das Exponat die Besucher an. Im Cyberneticzoo ist es exzellent dokumentiert. Nicholas Negroponte gründete 1985 das Medienlabor seiner Hochschule. Im Jahr 2000 wurde er Honorarprofessor der Berliner Universität der Künste.
Was das Ausstellungsbuch verschweigt: „Software“ hatte von Anfang an Probleme. Gleich zu Beginn stürzte Ted Nelsons Computer ab, und zwei Künstler drohten mit dem Ausmarsch, weil das Museum ihre Werke zensiert hätte. Ein drittes Werk mit Tonbandaufnahmen wurde geshreddert, da der rotchinesische Parteichef Mao Tse-tung darauf zu hören war. Die erste Auflage des Begleitbuchs wanderte wegen eines unanständigen Fotos auf den Müll. In der Zweitauflage – und in der PDF-Datei – kam der betreffende Künstler nicht mehr vor.
Am Monatsende brach im Smithsonian-Museum für Geschichte und Technik in Washington ein Feuer aus. Genau dieses Museum sollte „Software“ im Dezember 1970 übernehmen. Der Schaden von 750.000 Dollar machte die Planung zur Makulatur. In New York fielen immer noch Computer aus, außerdem gerieten die Rennmäuse außer Kontrolle. Auf Details sei verzichtet, man kann sie aber in den amüsanten Memoiren von Karl Katz nachlesen.
„Software“ endete am 8. November 1970. Im Januar 1971 legte Museumsdirektor Katz den Posten nieder. Es gab aber ein Happy End. 2007 rekonstruierte der deutsche Künstler und Filmemacher Lutz Dammbeck die Würfelstadt. Seek II erlebte die Premiere in der Berliner Galerie Coma; zwei Jahre später durften die Mäuse in der Kunsthalle von Hamburg rennen. Dort entstand auch ein Video mit ihnen. Unser Eingangsbild nahm playability_de im Mai 2007 in Berlin auf (CC BY-NC-ND 2.0).
Direktor Katz lässt Rennmäuse ausstellen? Köstlich! Haben sich die Mäuse da drin eigentlich vermehrt?
Ein ambitioniertes Projekt, das den Computern mehr zumutete, als sie damals leisten konnten. Wer vor dreißig Jahren oder noch früher schon einen Computer hatte, der weiß, dass Abstürze an der Tagesordnung waren. Es wäre allerdings spannend, einige dieser Kunstobjekte heute aufzubauen bzw. auszustellen.
Danke für diesen höchst unterhaltsamen Beitrag!
Schöne Geschichte.
Das erinnert mich an eine Episode als ca. 20 Jahre später ein Abt.-Leiter des BMFT in der IT-Beiratssitzung sagte: „Software?? Das müssen wir nicht fördern, das ist doch sowieso in den Chips drin.“