250 Jahre Schachtürke
Geschrieben am 31.03.2020 von HNF
Wolfgang von Kempelen war österreichischer Staatsbeamter; er wurde 1734 in Pressburg geboren und starb 1804 in Wien. Im Frühjahr 1770 stellte er einen lebensgroßen Automaten vor, der Schach spielte. Die Figur in türkischer Tracht besiegte alle Gegner; später bereiste sie Europa und Amerika. Von Kempelens Schachmaschine wurde mehrfach nachgebaut; die jüngste Kopie steht im HNF.
Fangen wir mit der Enthüllung an: Wolfgang von Kempelens Schachtürke kann gar nicht Schach spielen, er tut nur so. Im Inneren ist Platz für einen Menschen, der den Arm bedient und die Figuren führt. Im Video macht es HNF-Pressesprecher Andreas Stolte. Er sitzt in dem Nachbau des Türken, den seit sechzehn Jahren das Museum zeigt; dieser ist auch oben im Eingangsbild zu sehen.
Das Original entstand im Winter 1769/70 in Pressburg. Heute heißt es Bratislava und ist die Hauptstadt der Slowakei, vor 250 Jahren wurde von dort aus das Königreich Ungarn regiert. Der Statthalter kam stets aus dem österreichischen Herrscherhaus. Das Geburtshaus des Schachtürken gehörte Wolfgang von Kempelen. Anno 1734 in Pressburg geboren, war er ein fleißiger Staatsbeamter; daneben betätigte er sich als Bastler und Erfinder. So konstruierte er eine Sprechmaschine. 1769 war er am Wiener Hof zugegen, als ein Zauberer aus Frankreich Kunststücke mit Magneten vorführte.
Von Kempelen meinte anschließend, dass er Besseres hervorbringen könnte. Königin Maria Theresia forderte ihn dazu auf, und der Beamte machte sich an die Arbeit. Das Ergebnis lag im Frühjahr 1770 vor: Ein künstlicher Mensch in türkischer Kleidung, der an einem Podest mit einem Schachbrett saß. Im Podest befand sich ein kompliziertes Räderwerk – so schien es jedenfalls. Der Türke bewegte den linken Arm, konnte Schachfiguren ergreifen und verschieben. Wer gegen ihn spielte, wurde binnen dreißig Minuten mattgesetzt.
Nach der Vorführung in Wien kehrten Erfinder und Automat nach Pressburg zurück. In den 1780er-Jahren ging Wolfgang von Kempelen mit ihm auf Tournee. Nach Kempelens Tod 1804 erwarb der Techniker und Impresario Johann Nepomuk Mälzel den Türken. 1809 gewann er eine Partie gegen Napoleon. Mälzel reiste mit der Maschine durch Europa und Amerika. Dort studierte ihn der Schriftsteller Edgar Allan Poe und verfasste einen berühmten Essay. Mälzel starb 1838; der Schachtürke wurde 1854 in Philadelphia durch ein Feuer zerstört.
Schon zu seinen Lebzeiten vermuteten manche Beobachter, dass im Inneren des Automaten ein Mensch steckte. 1827 beobachteten zwei Jungen im amerikanischen Baltimore, wie ein Mann dem Schachtürken entstieg, und eine Zeitung berichtete darüber. Öffentlich wurde das Geheimnis aber erst nach dem traurigen Ende der Maschine. 1857 schrieb der Philologe und Schachkenner George Allen The History of the Automaton Chess-Player in America. Allens Aufsatz brachte die wichtigsten Details.
Die erste Kopie des Schachtürken baute in den 1790er-Jahren der italienische Ingenieur Giuseppe Morosi. In Paris verdiente er damit etwas Geld – wir haben es im Blog erzählt. 1827 führten zwei Brüder mit Namen Walker einen „American Chess Player“ in New York vor. Der Spieler im Inneren war nicht so gut, und die beiden zogen sich bald aus dem Geschäft zurück. 1868 vollendete der englische Möbelschreiner Charles Hooper seinen Ajeeb. Im Unterschied zum Kempelenschen Türken setzte er die Schachfiguren mit der rechten Hand.
Bis 1876 trat er im Londoner Kristallpalast auf, danach ging er auf Tournee. 1877 verbrachte Ajeeb drei Monate in Berlin. 1878 erregte ein zweiter Ajeeb in Chicago Aufsehen – das wäre in unserer Zählung Automat Nummer Fünf. Der Ur-Ajeeb wurde nun nach New York gebracht, wo er Schach und Dame spielte; ab und zu stand er auch in anderen Städten. Ein Ajeeb kam wie der Automat Wolfgang von Kempelens 1929 im Feuer um. Der andere machte weiter; er soll 1944 oder später verschwunden sein.
Es ist gut möglich, dass Ajeebs Präsentation in Berlin zur Redensart „einen Türken bauen“ führte. Die Wendung wurde am 18. Februar 1880 im deutschen Reichstag gebraucht. Das Wort „getürkt“ finden wir vor zweihundert Jahren beim Schriftsteller E. T. A. Hoffmann; bei ihm heißt es so viel wie türkisch aussehen oder türkisch wirken. Die abschätzige Bedeutung „erfunden“ oder „gefälscht“ ist erst seit den frühen 1970er-Jahren belegt; man beachte die Gänsefüßchen im Text.
Nicht getürkt im Sinne E. T. A. Hoffmanns war der Schachautomat Mephisto. Sein Design wurde durch den Teufel aus Goethes „Faust“ inspiriert, ein Foto findet sich hier. Mephistos erster Auftritt fand 1878 in London statt, wo sein Schöpfer Carl Gottfried Gümpel wohnte. Er wurde 1835 in Hamburg geboren und stand den Kommunisten nahe; im Exil nannte er sich Charles Godfrey Gumpel. Auf dem Gruppenbild der englischen Schachfreunde ist er der Fünfte von rechts in der oberen Reihe. Er starb 1921.
Mephistos letzter Auftritt geschah 1889 auf der Weltausstellung in Paris, danach hörte man nichts mehr von ihm. Über sein Innenleben ist wenig bekannt; wahrscheinlich wurde der rechte Arm, der die Figuren bewegte, mit Elektromagneten gesteuert. Ein prominenter Bediener war der ungarisch-englische Schachmeister Isidor Gunsberg. 1980 verlieh die Münchner Firma Hegener + Glaser ihren Schachcomputern den Namen Mephisto. Wir haben sie 2018 in unserem Blog geschildert.
Hundert Jahre nach Mephistos letztem Spiel kehrte Wolfgang von Kempelens Schachtürke zurück. Der amerikanische Trickspezialist und –sammler John Gaughan steckte 120.000 Dollar in einen neuen Nachbau. Nach fünfjähriger Arbeit zeigte er ihn 1989 auf einer Tagung zur Geschichte des Zauberns in Los Angeles. Das Schachbrett des Automaten gehörte einst zum Kempelenschen Original; beim Feuer von 1854 war es nicht verbrannt. In einem Video von 2012 erleben wir Gaughans Gerät ab Minute 11:00.
Der letzte unserer Schachtürken ist der im HNF. In die Welt trat er am 25. März 2004, und auch von ihm gibt es ein Video. Noch besser wäre es (was aber zur Zeit nicht möglich ist), ihn in seinem Kabinett im ersten Obergeschoss des Museums zu besuchen. Wer noch einmal den Kempelenschen Automaten sehen möchte, kann sich einen Spielfilm von 1938 anschauen. Er erzählt die Geschichte des ersten Schachtürken sehr frei und in französischer Sprache. Baron de Kempelen wird vom deutschen Schauspieler Conrad Veidt verkörpert.
Nachtrag vom 4. April 2020: Nach Freischalten des Blogbeitrags erhielten wir eine Mail aus Wien von Professor Ernst Strouhal, dem vielleicht besten Kenner des Kempelenschen Schachtürken. Sie teilte mit, dass er bereits im Sommer 1769 fertiggestellt und vorgeführt wurde. Ein Bericht darüber erschien unter anderem in den Bayreuther Zeitungen. Die Technikgeschichte verlief eben manchmal anders, als die Geschichtsschreiber glaubten.