Am Brunnen im Computer

Geschrieben am 04.03.2025 von

Das englische Substantiv „well“ bedeutet Brunnen. Mit großen Buchstaben geschrieben ist es die Abkürzung für Whole Earth Lectronic Link, was man mit weltweitem elektronischen Bindeglied übersetzen kann. Der WELL startete vor vierzig Jahren im kalifornischen Ort Sausalito; er zählt zu den ältesten Online-Gemeinschaften. Der digitale Brunnen erinnert bis heute an die utopischen Wurzeln der Netzkultur.

Am Anfang war Stewart Brand. Geboren 1938 im US-Bundesstaat Illinois, machte er 1960 den Abschluss in Biologie an der Stanford-Universität. Nach dem Militärdienst studierte er Design und Fotografie in San Francisco. Er blieb dort und schloss sich der kalifornischen Hippie-Bewegung an. Brand interessierte sich aber auch für Technik und half im Dezember 1968 bei der legendären Online-Präsentation von Douglas Engelbart mit. In diesem Foto, das dabei entstand, sieht man ihn rechts unten auf dem Boden hocken.

1968 brachte Stewart Brand ebenso den Whole Earth Catalog heraus. Das 62-Seiten-Werk war eine Mischung aus Literaturführer und Produktverzeichnis und stellte Methoden und Werkzeuge für alternative Lebensweisen vor. Auf den Umschlag setzte Brand ein Foto der Erde im All, das ein NASA-Satellit aufgenommen hatte. Der Katalog wurde ein Bestseller und zur Bibel der sogenannten Gegenkultur. In der Folgezeit erschienen Fortsetzungen im gleichen Stil sowie „Software Reviews“ und „CoEvolution Quarterlies“; sie sind hier zur Lektüre zusammengefasst.

Die Belegschaft des WELL im März 1993; Geschäftsführer Maurice Weitman ist der Zweite von links in der oberen Reihe. (Foto MatisseEnzer CC BY-SA 4.0 seitlich beschnitten)

1984 besaß Stewart Brand einen gut gehenden Verlag im Städtchen Sausalito nördlich von San Francisco. Im Herbst des Jahres wurde er auf einer Tagung vom Mediziner Larry Brilliant angesprochen. Brilliant betrieb eine Firma namens NETI, die Systeme für Computer-Konferenzen installierte. Er schlug Brand eine Zusammenarbeit vor; diese Idee führte zum Online-Portal WELL, ausgeschrieben Whole Earth Lectronic Link. (Das „Lectronic“ steht für „Electronic“.) NETI stiftete den Computer, eine VAX 11/750; und die Netzwerk-Software PicoSpan.

Im März 1985 ging der Brunnen in Betrieb. Damals gab es schon das Internet, in das man mit einem Personal Computer, einem Modem und einem Telefon hereinkam; ein Film von 1983 beschreibt es ganz gut. Ab Minute 12:30 schildert er den Dienst The Source, auf Deutsch „Die Quelle“. Im Bereich „Participate“ konnten die User Dialoge führen. Die Anmeldung kostete 49,95 Dollar; die Nutzungsgebühr lag je nach Uhrzeit und Datenrate zwischen 25,75 und 7,75 Dollar pro Stunde. Zu seinen besten Zeiten hatte der Dienst 80.000 Abonnenten.

Der WELL verbesserte die Dialogfunktion und verlangte monatlich nur acht Dollar plus zwei Dollar für jede Online-Stunde. Er gliederte sich in Foren zu allen möglichen Themen, die von Moderatoren geleitet wurden; alle Teilnehmer traten unter ihren richtigen Namen auf. Ein Zeitschriftenartikel von 1985 sprach von einer neuen Dimension der Telefonkonferenz. 1993 hatte der digitale Brunnen 7.000 Fans und nahm zwei Millionen Dollar jährlich ein. Besonders groß wurde er nie, in den 2010er-Jahren hatte er noch knapp 2.700 Nutzer.

Eine besondere Beziehung bestand zwischen dem WELL und der Rockband Grateful Dead (Foto von 1970). Viele Fans gehörten zum Online-Portal und unterstützten es finanziell.

In seinen goldenen Jahren, den späten Achtzigern und frühen Neunzigern, galt der WELL als die einflussreichste Online-Community. Zur WELL-Gemeinde zählten der spätere AOL-Chef Steve Case, der Software-Unternehmer und Vater von Lotus 1-2-3 Mitch Kapor sowie der Kommunikationsforscher und Autor Howard Rheingold. Im Laufe der Zeit wechselte der WELL mehrmals den Besitzer, seit 2012 gehört er einem Investorenteam, der WELL Group. Ein namentlich bekanntes Mitglied ist der ehemalige Microsoft-Manager Scott Mauvais.

Den WELL gibt es noch, hauptsächlich ist er ein Denkmal der Internet-Frühzeit mit ihren Träumen und Hoffnungen. SPIEGEL und ZEIT entdeckten ihn spät. Die beste Beschreibung liefert das online lesbare Buch von Howard Rheingold; er trat 1993 auch im Fernsehen auf. Wer sich im Internet Archive anmeldet, findet dort die WELL-Geschichte der Journalistin Katie Hafner. Eine kürzere Darstellung verfasste Fred Turner von der Stanford-Universität. Das ist die Homepage von Stewart Brand, und hier geht es zu einem Film über ihn.

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Ein Kommentar auf “Am Brunnen im Computer”

  1. Detlef Borchers sagt:

    Ich war ca. sieben Jahre auf der WELL. Der große Knall geschah 1995, als Tom Mandel starb und vorher alle „Threads“ löschte, an denen er beteiligt war. Da Tom quasi die gute Seele der WELL war, hinterließ er ein riesiges Loch, mit Ausnahme der Bretter der Deadheads. Ich habe hier drüber geschrieben:

    https://www.zeit.de/1995/18/Hinscheiden_im_Cyberspace

    Kurze Zeit später wurde die WELL das erst Mal verkauft und landete nach zahlreichen Wechsel bei Salon.com, die das BBS dann verrotten ließen.

    Zu den Highlights gehörte die Gründung der Electronic Frontier Foundation (EFF) auf der WELL mit Mitch Kapor als Moderator des EFF-Bretts. Und natürlich die Urform der Kleinanzeigen mit Craigslist.

    –Detlef

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