Computer in Indien
Geschrieben am 09.08.2022 von HNF
Vor 75 Jahren, am 15. August 1947, entstanden aus einer britischen Kolonie die Staaten Indien und Pakistan. Deshalb befassen wir uns heute mit den Anfängen der Informatik auf dem indischen Subkontinent. Der erste Digitalcomputer ging 1955 in Kolkata in Betrieb; er wurde aus England eingeführt. Fünf Jahre später lief in Mumbai ein Elektronenrechner eigener Produktion.
Das Rechnen, wie wir es kennen, begann in Indien. Dort notierten im 7. Jahrhundert Gelehrte die Zahlen mit zehn Ziffern einschließlich der Null und verwendeten Stellenwerte. Über den islamischen Kulturkreis erreichte das System Europa. Die Zeit von 400 bis 1600 gilt als die goldene Ära der indischen Mathematik. 1846 verfasste der Bankangestellte Dorabjee Hormusjee in Mumbai, das damals noch Bombay hieß, den Oriental Calculator, eine Rechentafel fürs Finanzwesen. Sie war vielleicht das erste Werk der indischen Informatik.
Ab 1858 wurde der Subkontinent von Großbritannien regiert, Mumbai schon eher. Am 15. August 1947 entstanden die modernen Staaten Indien und Pakistan; am 4. Januar 1948 erfolgte die Gründung von Burma, dem heutigen Myanmar. Noch in der Kolonialzeit, im Dezember 1931, schuf der 1893 geborene Physiker Prasanta Chandra Mahalanobis das Indian Statistical Institute, kurz ISI. Es gehörte zum Presidency College von Kalkutta, dem heutigen Kolkata, Mahalanobis war der einzige Mitarbeiter. Das Institut vergrößerte sich jedoch schnell.
Das ISI kaufte schon in den 1930er-Jahren mechanische Rechenmaschinen und legte sich auch Lochkartentechnik zu. 1943 entwickelte das Institut eine eigene Rechenmaschine; in den Fünfzigern folgte ein Sortierer für Lochkarten. Er soll aber schlechter als die Geräte der British Tabulating Machine Company und der IBM gewesen sein. 1950 eröffnete Mahalanobis im ISI eine Abteilung für Rechenmaschinen und Elektronik. Die Leitung übertrug er dem Chemiker und Mathematiker Samarendra Kumar Mitra.
Mitra war Jahrgang 1916 und hatte einige Zeit in den USA studiert. Zusammen mit einem Kollegen sammelte er in Depots für ausgemusterte Rüstungsgüter und im Schrotthandel die Einzelteile für einen elektrischen Analogrechner. Er umfasste 110 Potentiometer und fand die Lösungen eines linearen Gleichungssystems mit maximal zehn Unbekannten. Im Dezember 1953 führte Mitra dem indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru den Rechner vor. Er wurde im ISI bis 1959 genutzt, hier geht es zu einer Beschreibung.
Im August 1955 lief im Institut der erste Digitalrechner Indiens. Der HEC 2M – die Abkürzung steht für Hollerith Electronic Computer – kam von der British Tabulating Machine Company. Er besaß eine Speichertrommel mit 1.024 Worten zu 24 Bit und ging auf die Geräte der Computerpioniere Andrew und Kathleen Booth zurück. 1958 erwarb das ISI mit Unterstützung der UNO einen URAL-Rechner aus der UdSSR. Sowjetische Ingenieure halfen den Indern bei der Bedienung, denn alle Handbücher waren russisch.
Die zweite Geburtsstätte der indischen Informatik befand sich in Mumbai. Hier arbeitete das 1945 gegründete Tata Institute of Fundamental Reseach TIFR; es widmete sich vor allem der Atomforschung. Ab 1954 gab es auch ein Team, das sich mit digitaler Elektronik befasste; der Leiter war der 1926 geborene Ingenieur und Mathematiker Rangaswamy Narasimhan. 1957 stellte er einen Versuchsrechner zum Erproben von Schaltkreisen und Röhren fertig. Er bildete die Basis für einen großen Computer, den ersten aus indischer Herstellung.
Der Tata Institute of Fundamental Research Automatic Calculator TIFRAC nahm 1960 den Betrieb auf, offiziell eingeweiht wurde er 1962 wiederum von Jawaharlal Nehru. Der Rechner hatte 2.700 Röhren, 1.700 Germanium-Transistoren und einen Kernspeicher für 2.048 Worte der Länge vierzig Bit. 1964 stellte das Institut einen hochmodernen Computer aus den USA auf, eine CDC 3600 von Control Data. Schon 1961 installierte die ESSO-Filiale in Mumbai eine transistorbestückte IBM 1401, den ersten Computer in einer indischen Firma.
Eine IBM 1620 erhielt 1962 das Indian Institute of Technology in Kanpur, ein Modell 1401 ging 1964 ans ISI in Kolkata. Das Institut tat sich zudem mit der ortsansässigen Jadavpur University zusammen und baute bis 1966 den ersten indischen Transistorrechner ISIJU-I. Er wurde hauptsächlich im Unterricht benutzt. 1967 erfolgte in Hyderabad die Gründung der Electronics Corporation of India Limited oder ECIL. Diese kann man den ersten indischen Computerhersteller nennen; ihr Erstling, der Minicomputer TDC-12, lief 1971.
Damit möchten wir unseren historischen Rundblick abschließen. Für eine detaillierte Behandlung empfehlen wir diese Broschüre aus dem Jahr 2012; die englische Wikipedia bringt einiges über die aktuelle Lage der Branche. In der indischen Computergeschichte stießen wir auf zwei bekannte Namen. Der erste ist Berners-Lee: Conway Berners-Lee, der Vater des World-Wide-Web-Erfinders Tim Berners-Lee, arbeitete 1958 zwei Monate lang als Gastforscher im ISI. Der zweite Name lautet Robotron, denn das Kombinat verkaufte 1975 einen EC1040-Rechner an eine staatliche indische Beratungsfirma.
Die drei IT-Pioniere gibt es nicht mehr, Mahalanobis starb 1972, Mitra 1998 und Narasimhan 2007. Ein informatives Buch über die Geburt des modernen Indiens ist Freedom at Midnight von Larry Collins und Dominique Lapierre. Es erschien 1975; der deutsche Titel lautete „Um Mitternacht die Freiheit“. Unser Eingangsbild zeigt die Sonnenuhr der Sternwarte Jaipur, die der mathematisch interessierte Herrscher Jai Singh II. von 1728 bis 1738 erbaute.
Interessant ! Toll, was man alles lernt !