Das offene Geheimnis
Geschrieben am 05.04.2016 von HNF
Der Turingpreis ist in der Informatik das Gegenstück zum Nobelpreis. Die Gewinner für das Jahr 2015 sind die Amerikaner Whitfield Diffie und Martin Hellman. Die beiden beschrieben 1976 in einem Aufsatz die Kryptographie mit öffentlichem Schlüssel. Ihre Idee löste eine Revolution in der Chiffriertechnik aus und öffnete sie für Benutzer außerhalb der Welt der Geheimdienste.
Die Kryptographie, die Kunst des Ver- und Entschlüsselns, blieb lange den Militärs, den Diplomaten und den Geheimdienstlern vorbehalten. Zwar schickten sich Verliebte manchmal Grüße auf Postkarten, die durch eine simple Buchstabenersetzung codiert waren, doch die Krypto-Profis agierten in ihrer eigenen Welt und geschützt vor der Öffentlichkeit. Das bekannteste Symbol ist die Chiffriermaschine Enigma – siehe oben – deren Name schon das Geheimnis ausdrückt, das ihre Texte kennzeichnet (Foto: Jan Braun, HNF).
Ab 1977 verbreitete sich der Data Encryption Standard (DES), ein elektronisches und volldigitales Chiffrierverfahren. Es wurde von IBM entwickelt; Haupterfinder war der in Berlin geborene Horst Feistel. Der DES ist eine Blockverschlüsselung, die nicht wie die Enigma Buchstabe auf Buchstabe ersetzt. Stattdessen wird der Text als Folge von Nullen und Einsen geschrieben und abschnittsweise nach einer programmierten Vorschrift umgewandelt. Die chiffrierten 0-1-Folgen muss der Empfänger des Textes mit dem passenden Entschlüsselungsprogramm wieder lesbar machen.
Ein Jahr zuvor erschien in der amerikanischen Zeitschrift „IEEE Transactions on Information Theory“ ein Artikel, der die Chiffriertechnik von Grund auf änderte. New Directions in Cryptography stammte von Martin Hellman, Professor für Elektrotechnik an der kalifornischen Stanford-Universität, und dem Studenten Whitfield Diffie. In dem Artikel gingen außerdem Ideen von Ralph Merkle ein, der damals ebenfalls noch Student war. (Der Name spricht sich wie „Merkel“ aus.)
Der Artikel vom November 1976 brachte den Hauptautoren vierzig Jahre später den Turingpreis der Association for Computing Machinery (ACM) ein. Die in New York ansässige ACM wurde 1947 gegründet und ist die älteste Fachgesellschaft für Informatik. Die offiziell A. M. Turing Award genannte Auszeichung verleiht sie seit 1966 jedes Jahr; sie gilt als der Nobelpreis der Computerwissenschaft. Bei der Vergabe an Diffie und Hellman spielte neben der wissenschaftlichen Leistung wohl auch die politische Bedeutung der Verschlüsselung eine Rolle.
Zum Verständnis der neuen Richtungen in der Kryptographie wollen wir kurz die alten erläutern. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass der Schlüssel – etwa die Einstellung der Chiffriermaschine – nur dem Sender und dem Empfänger des chiffrierten Textes bekannt sein dürfen. Falls eine dritte Person Schlüssel und Text in die Hand bekommt, kann sie das Verfahren umkehren und die chiffrierte Botschaft lesen. Bei der Enigma war es besonders einfach: sie verwendete die gleiche Einstellung zum Verschlüsseln und zum Entschlüsseln einer Nachricht.
Whitfield Diffie und Martin Hellman erkannten: Man kann auch so chiffrieren, dass aus einem verschlüsselten Text und dem dazu benutzten Schlüssel nicht gleich die Umkehrung der Verfahrens und die Gewinnung des Klartextes folgen. Dieser erscheint erst nach Anwenden eines zweiten Schlüssels. Ein Sender kann also den ersten „öffentlichen“ Schlüssel einem Partner übermitteln und der Partner eine damit verschlüsselte Nachricht zurückschicken. Der Sender entziffert sie mit seinem „geheimen“ Schlüssel, ohne eine Dechiffrierung durch Dritte befürchten zu müssen.
Auf Englisch spricht man von „public-key cryptography“ und ebenso von „asymmetric cryptography“. 1976 gaben Diffie und Hellman nach der Grundidee das erste Beispiel der neuen Kryptographie an, den Diffie-Hellman-Schlüsselaustausch. Am Ende verfügen die Partner der öffentlich verschlüsselten Kommunikation über eine nur ihnen bekannte Zahl, die sie für weitere Aktionen verwenden können. Eine Möglichkeit wäre ein geheimer Dialog mit dem oben erwähnten Data Encryption Standard.
1977 war nicht nur das Jahr, in dem der DES offiziell eingeführt wurde, sondern auch das Geburtsjahr des RSA-Algorithmus. Mit ihm schufen die Informatiker Ronald Rivest, Adi Shamir und der Mathematiker Leonard Adleman eine öffentliche Verschlüsselung, die beliebige Zeichenfolgen übermittelte. Aus Gründen der Rechenzeit sollten sie aber nicht zu lang sein. Das Kürzel RSA basiert auf den Namen der drei Erfinder, die für ihr System den Turing-Preis für das Jahr 2002 erhielten.
Die Arbeiten von Diffie und Hellman und des RSA-Trios zeigen den hohen Wert der Mathematik für die Kryptographie. Zahlentheorie und verwandte Gebiete, die einst nur Akademiker interessierten, gewannen über Nacht politische und militärische Relevanz, worauf sich die gesamte Krypto-Szene änderte. Zivile Forscher und Computerfreaks strömten hinein und entwickelten eine demokratische Chiffriertechnik, erkennbar unter anderem am Verfahren Pretty Good Privacy.
Wir verdanken Whitfield Diffie und Martin Hellman also eine ganze Menge. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ihre Methode wie auch der RSA-Algorithmus schon vorher vom englischen Geheimdienst GCHQ gefunden – und verschwiegen – wurde. Wir gratulieren den beiden Turing-Preisträgern und wünschen viel Spaß auf dem Festbankett der ACM, das am 11. Juni in San Francisco stattfindet.
Die Fa. Nixdorf setzte den DES schon sehr früh zur Verschlüsselung des Datenverkehrs zwischen Zentralrechner und Geldausgabe-automaten ein. Hier hätte die Modifikation von 70 Bytes (!) Programmcode genügt, um alle Geldkassetten nacheinander zu leeren.