Der vergessene Codebrecher
Geschrieben am 09.07.2019 von HNF
Morgen eröffnet im Londoner Science Museum die Ausstellung „Top Secret“; sie schildert die jüngere Geschichte der verschlüsselten Kommunikation. Anlass ist der hundertste Geburtstag des Geheimdienstes GCHQ im November 2019. Er zeichnete sich vor allem im Zweiten Weltkrieg aus; dabei wirkte auch Alan Turing mit. Ein anderer Krypto-Held aus jener Zeit war der Mathematiker Gordon Welchman.
Am 7. März dieses Jahr besuchte die Queen in London das Science Museum und ließ sich Geräte aus der Chiffriertechnik zeigen. Dazu zählten eine deutsche Enigma und ein rotes Telefon, das während der Kubakrise 1962 US-Präsident Kennedy und Premierminister Macmillan verband. Mit dem Segen der Königin ging die Arbeit munter fort. Vom 10. Juli an zeigt das Museum die genannten Objekte und viele andere aus der Kryptologie in der Ausstellung Top Secret: From Ciphers to Cyber Security.
Die Chiffren und die Computersicherheit feiern den britischen Geheimdienst GCHQ. Als Government Code and Cipher School wurde er am 1. November 1919 gegründet. Er knackte in London vor allem die Korrespondenz der ausländischen Botschaften. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete die GC&CS in Bletchley Park. Danach zog die Schule wieder nach London und erhielt den jetzigen Namen Government Communications Headquarters. Der Dienst sitzt mittlerweile in einem futuristischen Rundbau in Cheltenham in Südwestengland.
Öffentlich bekannt ist das GCHQ seit 1976; damals schrieben ein englischer und ein amerikanischer Journalist einen Bericht für eine Londoner Zeitschrift. Der Brite wurde danach vor Gericht gestellt, sein US-Kollege des Landes verwiesen. In den Siebzigern erschienen zudem die ersten Bücher, welche die kriegswichtigen Entschlüsselungen in Bletchley Park schilderten. Enthüllt wurde auch die geheime Tätigkeit von Alan Turing. Er entwickelte die Bombe zur Simulation von Enigmas. Sie half, Enigma-verschlüsselte Nachrichten zu lesen.
In Bletchley gab es einen zweiten bedeutenden Codebrecher: Gordon Welchman. Er wurde 1906 in Bristol als Sohn eines Pfarrers geboren. Der junge Welchman besuchte ein Internat für die Söhne von Kirchenmännern, er studierte aber Mathematik in Cambridge. 1929 wurde er Dozent. 1938 meldete sich bei ihm die Government Code and Cipher School; am Jahresende erhielt er in London einen Schnellkurs im Chiffrierwesen. Nach Ausbruch des Krieges, im September 1939, trat Welchman in Bletchley seine Stelle als Kryptologe an.
Hier entschlüsselte er zunächst Funksprüche der Wehrmacht und der deutschen Luftwaffe. Die einzigen Hilfsmittel neben der menschlichen Intelligenz waren Lochblätter mit einem 26×26-Raster. Erst im August 1940 liefen die ersten mechanischen Bomben. Die Grundidee stammte, wie erwähnt, von Alan Turing; Gordon Welchman fiel aber eine entscheidende Verbesserung bei der Verkabelung der Maschinen ein. Das von ihm erfundene Diagonalbrett machte die Bomben erst praktisch einsetzbar.
In Bletchley Park tüftelte Welchman in Baracke 6; Turing saß in Baracke 8, die sich der Kommunikation der deutschen U-Boote widmete. 1941 entwarf Welchman einen Brief an Premierminister Winston Churchill, in dem er auf einen drohenden Personalmangel hinwies. Der Brief wurde auch von Alan Turing und zwei anderen Top-Kryptologen unterzeichnet und direkt nach Downing Street Nr. 10 gebracht. Churchill gab sofort die nötigen Anweisungen und versah sie mit einem „Action this day“-Aufkleber. Am Ende des Krieges beschäftigten das Dechiffrierzentrum und seine Außenstellen rund 10.000 Menschen.
1943 wurde Welchman zum technischen Direktor von Bletchley Park ernannt. 1945 verließ er das Zentrum und arbeitete für eine englische Kaufhauskette; 1948 zog er in die USA. Dort war er im Whirlwind-Projekt des MIT und später für die Computerfirmen ERA, Remington Rand, Ferranti und Itek tätig. 1962 bekam er die amerikanische Staatsbürgerschaft und einen neuen Job. Für die technisch-militärische Beratungsfirma MITRE schrieb er Studien über Strategie und Taktik sowie über den Einsatz der Elektronik auf dem Schlachtfeld.
Im Februar 1982 erschienen Gordon Welchmans Memoiren „The Hut Six Story“. Zwei Drittel behandelten seine Zeit in Blechtley Park, ein Drittel seine Arbeit für MITRE. Das Buch kam zunächst in den USA heraus. Vor der englischen Veröffentlichung wurde Premierministerin Margaret Thatcher informiert. Ihr Kabinettssekretär befürchtete, dass das Werk ausländische Geheimdienste zu höheren Leistungen stimulieren würde. Es war aber klar, dass man nichts gegen die Publikation tun konnte; es fand nur ein Gespräch mit dem Verlag statt.
Welchman musste mehr erdulden. Sein Zugang zu vertraulichen Akten wurde blockiert, und er erhielt Besuch von Abgesandten der Krypto-Agentur NSA. Angeblich hatte er gegen Paragraph 798 des US-Strafgesetzbuchs verstoßen, der die Weitergabe von geheimen Informationen über Chiffriertechnik untersagt. Dabei macht das Gesetz keinen Unterschied zwischen amerikanischen und ausländischen Systemen. Es erfolgte keine Anklage, doch Welchman durfte weder Interviews geben noch auf andere Weise für sein Buch werben.
1985 starb Gordon Welchman an Krebs. Es verwundert natürlich, dass seine Erkenntnisse zur Enigma geheim waren. 2016 wurde in seinem Geburtsort Bristol eine Gedenktafel enthüllt, und GCHQ-Chef Robert Hannigan lobte ihn. Auf der Homepage des Geheimdienstes heißt es aber nach wie vor: “Seine brillante Karriere in Bletchley Park wurde durch Kontroversen überschattet, als er in den frühen 1980er-Jahren gegen den Wunsch von englischen und amerikanischen Stellen Einzelheiten seiner Tätigkeit im Krieg veröffentlichte.“
Ein besonderes Kapitel ist das Schicksal seiner Memoiren. „The Hut Six Story“ war kein Bestseller, aber in England erschien 1984 noch eine Taschenbuchausgabe. 1997 kam eine Neuauflage heraus; darin fehlte der komplette Teil über seine MITRE-Studien. Stattdessen enthielt die Ausgabe einen Artikel von Welchman über die erste Entschlüsselung der Enigma durch polnische Kryptologen. Vielleicht gab der Autor im letzten Drittel des Buches Dinge preis, die das GCHQ oder die NSA kein zweites Mal gedruckt sehen wollten.
Schon 1977 war Gordon Welchman – damals relativ unbekannt – im Fernsehen zu sehen. Er trat in der BBC-Serie „The Secret War“ auf; bei uns lief sie unter dem Titel „Streng geheim“. Die betreffende Folge dürfte der erste Filmbericht über Blechtley Park gewesen sein. Unser Eingangsbild oben zeigt den Schreibtisch von Welchman in Baracke 6 (Foto William Warby CC BY 2.0). Den Kollegen im Londoner Science Museum wünschen wir derweil viel Erfolg für ihre neue Ausstellung „Top Secret“.