Die digitale Metropolis

Geschrieben am 16.05.2023 von

Die alten Griechen sahen Nemesis als die Göttin der gerechten Strafe. Im Englischen wie im Deutschen kann das Wort auch die Strafe selbst bedeuten. Seit heute zeigt das HNF in einer Sonderausstellung die Nemesis-Maschine, ein großes Stadtmodell des Londoner Künstlers Stanza. Es entwirft eine elektronische Zukunftswelt, die zugleich durch die Überwachung ihrer Bürger geprägt ist.

Im dritten Obergeschoss des HNF werden gewöhnlich Sonderausstellungen gezeigt, und jetzt gibt es wieder eine zu sehen. The Nemesis Machine ist ein Projekt des Londoner High-Tech-Künstlers Stanza. Sie erscheint als blinkendes und leuchtendes Stadtmodell aus Tausenden Elektronikteilen. Wer aber genauer hinschaut, entdeckt Monitore mit Zahlen und Videos und vielleicht auch sich selbst. Denn das Modell empfängt Outputs von Sensoren, Datennetzen und Überwachungskameras.

Sein Schöpfer Stanza wurde 1962 als Steve Tanza geboren. Er strebte zunächst eine Karriere in der Musik an; in den 1980er-Jahren finden wir ihn als Drummer in den Bands Nocturnal Emissions und Bourbonese Qualk. Daneben besuchte er eine Kunsthochschule, malte, fotografierte und produzierte Videos. Inspirationen empfing er von Filmen wie Koyaanisqatsi und Powaqqatsi. Sein herausragendes Thema war schon damals die Stadt und speziell London. In den frühen Neunzigern organisierte Stanza das multimediale Kunstprojekt The State.

Der Künstler vor der Nemesis-Maschine (Foto Stanza)

1995 entdeckte er das Internet, ein Jahr später startete er die Website The Central City. Es folgten digitale Installationen wie Binary Space oder Megalopolis, die auf Stanzas heutiger Seite dokumentiert sind. Zur Jahrtausendwende schuf er die Datenbank Soundcities mit Originaltönen aus vielen Städten. Sie ist immer noch erreichbar und anhörbar. Außerdem befasste sich Stanza mit Bildern von Überwachungskameras – im englischen Sprachraum sagt man meist CCTV – und von Webcams.

2010 entstand ein erstes, noch kleines Stadtmodell The City of Bits. Über die Emergent City wurde daraus die Nemesis Machine. Sie liegt in mehreren Versionen vor und bildet so etwas wie die Summe von Stanzas Schaffen. Die Mini-Stadt ist mit Sensoren und Kameras in der Außenwelt wie im Ausstellungsraum verbunden und gibt Daten und Bilder auf Monitoren wieder. Sie befinden sich im Modell, können aber ebenso an der Wand des Raumes hängen. Die Nemesis-Maschine bringt also eine kritische Sicht unserer digitalen Welt, und Nemesis war im alten Griechenland eine strafende Göttin.

Stanzas Werk steht nicht isoliert da. Schon im Oktober 2001 eröffnete das ZKM in Karlsruhe die Ausstellung CTRL [Space] zur „Rhetorik der Überwachung“. Beteiligt war eine lange Liste von Künstlern und Künstlerinnen; Videos kamen aus dem Stasi-Archiv und aus Shows des Reality-TV. Der Untertitel „Von Bentham bis Big Brother“ erinnerte an den Roman 1984 von George Orwell und an das Panopticon des englischen Philosophen Jeremy Bentham. Der 1791 publizierte Architekturplan für Gefängnisse gilt als Beginn der Überwachungstechnik.

Der bekannteste Archigram-Entwurf: die laufende Stadt (Foto Mark Hinchman CC BY-NC 2.0 koloriert)

Die Nemesis-Maschine knüpft auch an Ideen der utopischen Architektur an. Zukunftsstädte finden wir 1927 im Film Metropolis und 1930 im Roman Das Automatenzeitalter; dort gibt es bereits eine dezente Überwachung der Bürger. Ein futuristisches Stadtmodell zeigte der Konzern General Motors 1939 auf der New Yorker Weltausstellung, futuristische Gebäude prägten die EXPOs der Nachkriegszeit bis zur Weltschau von 1970 in Osaka. Stanza war mit den Plänen des Londoner Architekturbüros Archigram vertraut – das ist ein Video von 1967 darüber. Ein Archigram-Papier beschrieb 1964 eine „Computer City“.

Erwähnen müssen wir noch einen anderen Künstler, der gleichfalls Stadtmodelle baute. Bodys Isek Kingelez wurde 1948 im damals belgisch verwalteten Kongo geboren; er starb 2015 in Kinshasa. Hier ist ein Foto – bitte scrollen – von ihm aus dem Jahr 1993. Wer mit „Kingelez Modell“ nach Bildern googelt, erhält einen Eindruck von seinem umfangreichen Output. Wer mehr über Stanza wissen möchte, dem empfehlen wir die Homepage des Künstlers und die Lektüre seiner Dissertation. Am besten ist natürlich der Besuch der Ausstellung im HNF.

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2 Kommentare auf “Die digitale Metropolis”

  1. Stu Savory sagt:

    Der Drahtverhau errinnert an amerikanische Kleinstädte.

  2. Karl Pichler sagt:

    Hier ein passendes aktuelles Gespräch mit
    Max Tegmark und Lex Fridman
    Es ist leider sehr düster und gibt
    der Nemesis Maschine eine hochaktuelle Brisanz.
    https://youtu.be/VcVfceTsD0A

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